Phagen – die «guten» Viren
Antibiotikaresistenzen gelten als eine der grössten Bedrohungen für die Menschheit. Dagegen helfen könnten sogenannte Bakteriophagen. Die ZHAW gehört schweizweit zu den führenden Forschungsstandorten auf diesem schnell wachsenden Gebiet.
Einst galten Antibiotika als Wunderwaffe im Kampf gegen schädliche Bakterien. Auch in der Landwirtschaft kommen die Antibiotika bis heute in grossen Mengen zum Einsatz. Doch seit einigen Jahren nimmt die Zahl von antibiotikaresistenten Bakterien explosionsartig zu. Jedes Jahr sterben gemäss WHO mehr als 700‘000 Menschen an resistenten Keimen. In Viehzuchtbetrieben, Abwässern und Krankenhäusern tauchen immer neue resistente Mikroorganismen auf. ForscherInnen weltweit suchen fieberhaft nach neuen Waffen im Kampf gegen Bakterien. Besonders grosse Hoffnung setzen sie auf Viren, sogenannte Bakteriophagen.
An der ZHAW leitet Professor Lars Fieseler mehrere Forschungsprojekte zu Bakteriophagen. «Die Zunahme von Resistenzen ist dramatisch», sagt er. Fieseler ist Lebensmittelmikrobiologe. Er leitet an der ZHAW das Zentrum für Lebensmittelsicherheit und Qualitätsmanagement sowie die Forschungsgruppe Lebensmittelmikrobiologie. «Bakteriophagen», sagt Fieseler, «haben ein enormes Potenzial in der Bekämpfung von Bakterien, das bis heute noch kaum zum Einsatz kommt.»
Antibiotika im Obstbau
Bakteriophagen sind bestimmte Gruppen von Viren, die auf Bakterien als Wirtszellen spezialisiert sind und diese zur eigenen Vermehrung zerstören. Das will sich die Wissenschaft zunutze machen und so neue Mittel im Kampf gegen Bakterien entwickeln. An der ZHAW laufen unter Leitung von Lars Fieseler zurzeit vier Forschungsprojekte zu Bakteriophagen, das grösste trägt den Titel «PhageFire». Im Fokus steht dabei das Bakterium Erwinia amylovora, Erreger des unter Obstbauern gefürchteten Feuerbrands. Die mehrere hundert Jahre alte Pflanzenkrankheit hat sich mit der Globalisierung weltweit ausgebreitet und lässt befallene Pflanzen innerhalb kurzer Zeit vertrocknen. «Bauern setzten dagegen seit vielen Jahre verbreitet Antibiotika ein», sagt Fieseler. «Aufgrund der zunehmenden Resistenzen haben inzwischen zahlreiche Staaten diese Anwendung verboten. Bakteriophagen könnten diese Aufgabe in Zukunft übernehmen.» Das Projekt ist eine Zusammenarbeit eines internationalen Konsortiums von Kernobstproduzenten und Forschungsunternehmen, finanziert wird es durch das EU-Forschungsprogramm Horizon 2020. «Unser Auftrag ist es, bis in zwei Jahren einen Phagen-Cocktail zu entwickeln, den Obstbauern gegen die Feuerbrand-Erreger einsetzen können», sagt Lars Fieseler.
«Phagen-Boom»
Das Potenzial von Phagen entdeckten Forschende bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aufgrund der zeitgleich aufkommenden Antibiotika blieb das Interesse in Westeuropa und den USA klein. Insbesondere in Teilen der Sowjetunion, wo Antibiotika rar waren, wurde später intensiv zu Phagen geforscht. Infolge der zunehmenden Antibiotika-Resistenzen ist seit einigen Jahren in weiten Teilen der Welt ein neues Interesse an Phagen erwacht. Lars Fieseler spricht von einem «Phagen-Boom». Nicht nur die Wissenschaft, auch immer mehr Start-up-Unternehmen widmen sich den kleinen Bakterien-Killern.
Die komplexesten Viren
Bakteriophagen sind kleine Nanokraftwerke, sie gelten als die komplexesten Viren überhaupt. Zur Vermehrung docken sie an den Wirtsbakterien an und durchdringen deren Zellwand. Mittels eines Prozesses, zu dessen genauerem Verständnis die ZHAW ebenfalls forscht, gibt der Phage seine DNA in das Bakterium ab. Dort vermehrt sich der Phage, zerstört dabei das Bakterium und vervielfacht sich um das Fünfzigfache. Dabei sind Bakteriophagen hoch spezifisch, das heisst, ein Phage braucht zur Vermehrung immer eine ganz bestimmte Bakterienart. Im Gegensatz zu Antibiotika können Phagen somit zielgenau zur Bekämpfung von Bakterien eingesetzt werden.
Gegen den Feuerbrand-Erreger bei Kernobst
«Die Spezifität ist Chance und grosse Herausforderung zugleich», sagt Lars Fieseler. Die Suche und Bestimmung der jeweils passenden Phagen ist für die Wissenschaftler, wie etwa im Fall des Feuerbrand-Erregers, mit grossem Aufwand verbunden. Die Gewinnung der Phagen erfolgt im Feld, dort, wo auch die jeweiligen Wirtbakterien vorhanden sind. MitarbeiterInnen aus dem Team von Lars Fieseler besuchen Kernobstplantagen, in denen der Feuerbrand sich ausbreitet, und entnehmen Bodenproben. Im Labor züchten sie dann Phagenkulturen heran, die sie mit den jeweiligen Bakterien nähren. In verschiedenen Zwischenschritten werden die einzelnen Phagentypen isoliert und schliesslich ihr Genom sequenziert. In weiteren Projekten forscht Fieseler mit seinem zwölfköpfigen Team zu einem Phagen-Puder für den Einsatz in Lebensmitteln und zu Phagen, mit denen das Darmbakterium E. coli bekämpft werden kann.
Grundsätzlich einsetzbar sind Phagen überall dort, wo Bakterien die Gesundheit der Menschen gefährden. Im Bereich der Lebensmittel haben die Behörden in den USA bereits verschiedene Phagen zur Anwendung zugelassen. Die Behörden in der EU sind dabei deutlich restriktiver. In der Schweiz ist der Einsatz eines bestimmten Bakteriophagen für die Käseproduktion bewilligt.
Grosses Potenzial in der Medizin
Grosses Potenzial besteht auch im Bereich der Medizin, wie die Erfahrungen aus Osteuropa zeigen. Etwa bei der Bekämpfung von Lungenkrankheiten, Entzündungen des Knochenmarks oder der Hirnhaut. Auch in der EU und den USA wurde der Einsatz von Phagen in Einzelfällen bereits mit Erfolg bewilligt. Für eine breite medizinische Zulassung sind die Hürden jedoch deutlich höher, wie Sabina Gerber sagt. Sie ist Leiterin der Fachstelle Biochemie und Bioanalytik an der ZHAW und forscht ebenfalls zu Phagen. «Wir wollen die Funktionsweise der Phagen bis ins kleinste Detail verstehen.» In Zusammenarbeit mit Lars Fieseler untersucht sie den molekularen Aufbau und den Infektionsprozess der Phagen. Im Fokus steht dabei der sogenannte Schwanzsporn der Phagen, ein komplexes Konstrukt aus Proteinen, mit denen ein Phage am Bakterium andockt und das der Wissenschaft noch einige Fragen aufgibt.
Eine der grössten Herausforderungen für einen verbreiteten Einsatz von Phagen wird es sein, das Vertrauen der Gesellschaft zu gewinnen, sind sich Lars Fieseler und Sabina Gerber einig. Denn momentan haben Viren keinen besonders guten Ruf. Das könnte sich schon bald ändern.
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