Plötzlich alleine
In der Schweiz wachsen mehrere Tausend Jugendliche und Kinder in Pflegefamilien auf. Nach dem 18. Geburtstag stehen viele alleine da. Ein Projekt der ZHAW Soziale Arbeit unter der Leitung von Renate Stohler und Karin Werner will Pflegekinder beim Übergang in die Selbständigkeit unterstützen.
Wenige Tage nach ihrem 18. Geburtstag packte Nina G. ihre Taschen und verliess das Haus ihrer Pflegeeltern für immer. Die Beziehung zur Pflegemutter hatte sich über die vergangenen Jahre immer weiter verschlechtert, oft kam es wegen Kleinigkeiten zu Streit. Sie wusste nicht, wohin, und zog zurück zu ihrer Mutter, die mit ihren eigenen Problemen beschäftigt war. Mit einem Mal musste sie sich um alles alleine kümmern. «Nach dem 18. Geburtstag fühlte ich mich zuerst einmal ziemlich alleine», sagt Nina G.
6000 Pflegekinder in der Schweiz
In der Schweiz leben gemäss Schätzungen der Anlaufstelle Pflege- und Adoptivkinder Schweiz (PACH) rund 6000 Kinder und Jugendliche vorübergehend oder längerfristig in Pflegefamilien. Bis zum 18. Geburtstag sind die Pflegekinder von Fachpersonen begleitet. Nach Erreichen der Volljährigkeit endet der Pflegevertrag und viele Pflegekinder wollen oder müssen die Pflegefamilie verlassen. Die Behörden stoppen die Zahlungen an die Pflegefamilien, Beistände legen ihre Mandate nieder, Beziehungen zu Bezugspersonen brechen ab. «Viele Jugendliche verlieren mit dem 18. Geburtstag sämtliche Unterstützung. Das schafft eine schwierige Ausgangslage für den Start in die Selbständigkeit», sagt Karin Werner, Professorin am Departement für Soziale Arbeit der ZHAW, die zusammen mit Renate Stohler (Co-Projektleitung) in einem aktuellen Projekt zur Situation von Pflegekindern forscht.
Meist auf Sozialhilfe angewiesen
Jugendliche, die nach Erreichen der Volljährigkeit die Pflegefamilie oder das Heim verlassen, werden im internationalen Diskurs als Care Leaver bezeichnet. Was für Kinder gilt, die bei ihren Eltern aufwachsen, gilt für sie erst recht: Die wenigsten können mit 18 schon auf eigenen Beinen stehen. Plötzlich sind sie mit existenziellen Fragen konfrontiert: Welche rechtlichen Ansprüche habe ich? Welches Amt unterstützt mich? Wie kann ich Stipendien oder Prämienverbilligungen beantragen? Wie rechne ich mit der Krankenkasse ab? «Die allermeisten von ihnen sind auf Sozialhilfe angewiesen, weil sie für ihren Lebensunterhalt noch nicht aufkommen können, da sie oft noch mitten in der Ausbildung stehen», sagt Karin Werner. Studien aus dem Ausland zeigen, dass junge Erwachsene, die direkt mit dem Erreichen der Volljährigkeit aus der Pflegefamilie austreten, öfter von Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und sozialer Isolation betroffen sind.
Forschungslücke geschlossen
Die Situation von Care Leavern wird in vielen europäischen Ländern seit längerem erforscht. In der Schweiz rückte das Thema erst in den vergangenen Jahren in den Fokus der Wissenschaft. Dazu hat die Forschung des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie der ZHAW Soziale Arbeit massgeblich beigetragen. Professorin Karin Werner untersucht zusammen mit Kolleginnen in verschiedenen Forschungsprojekten die Situation von Care Leavern in der Schweiz. In Befragungen gaben rund zwei Drittel der Care Leaver an, sie seien zu wenig auf den Schritt in die Selbständigkeit vorbereitet worden und hätten nicht gewusst, wo sie Hilfe holen könnten.
Pflegekinder wirken mit
Deshalb wollten Karin Werner und Renate Stohler von ehemaligen Pflegekindern genauer erfahren, welche Angebote sie sich gewünscht hätten. Gemeinsam mit Jessica Brahmann als Mitarbeiterin starteten sie 2016 das Forschungsprojekt «Übergang in die Selbständigkeit: Pflegekinder wirken mit!», das von der Stiftung Mercator Schweiz unterstützt wird. Dazu holten sie eine Gruppe von ehemaligen Pflegekindern hinzu, die das Forschungsprojekt von Beginn an begleiteten. In einer ersten Phase befragten die Forscherinnen verschiedene Care Leaver zu ihren Erfahrungen. «Die meisten der ehemaligen Pflegekinder hätten sich rückblickend einen Austausch mit einer Person mit ähnlichem Erfahrungshintergrund gewünscht», so Karin Werner.
Mentoringprogramm «Take Off»
Ausgehend von dieser Erkenntnis entstand gemeinsam mit der Begleitgruppe das Projekt «Take Off». Die Grundidee: Erwachsene Care Leaver engagieren sich als Mentorinnen und Mentoren und begleiten Pflegekinder beim Übergang in die Selbständigkeit. Die Mentorings dauern ein halbes Jahr und können danach verlängert werden. «Es ist ein Beratungsangebot auf Augenhöhe», sagt Karin Werner. «Ähnliche Projekte zeigen, dass die Hürden für solche Angebote oft weniger hoch sind.» Wenn das Gegenüber ähnliche Erfahrungen gemacht hat, schaffe das ein gewisses Grundvertrauen. Manche Probleme, etwa private Themen und Unsicherheiten, liessen sich so einfacher ansprechen.
Das Interesse auf Seiten der Mentorinnen und Mentoren ist gross. Um mehr Pflegekinder zu erreichen, bräuchte es auch die Mitarbeit von Fachleuten wie Beiständinnen und Beistände sowie Familiendiensten, die das Projekt promoten. «Dort stellen wir jedoch manchmal eine gewisse Skepsis fest», sagt Karin Werner. «Dabei soll das Mentoringprojekt keine Fachpersonen konkurrenzieren», betont sie. Es brauche weiterhin professionelle Angebote und Unterstützung. «Das Mentoringprojekt kann dabei eine gute Ergänzung sein.»
In enger Zusammenarbeit mit der Begleitgruppe haben die Forscherinnen noch weitere Angebote entwickelt. Es entstand ein Film, der die Anliegen der Care Leaver aus ihrer Perspektive aufzeigt, sowie die Informationsplattform careleaver.ch. Im September 2020 haben sich die Care Leaver der Begleitgruppe nun selbständig gemacht und den Verein Cequality gegründet, der sich für die Anliegen von Care Leavern einsetzt und das Projekt «Take Off» weiterführt. All dies sind Schritte mit einem Ziel: Pflege- und auch Heimkinder sollen beim Schritt in die Selbständigkeit jene Hilfe finden, die sie brauchen.
«Endlich hat mich jemand verstanden»
Nina G. war elf Jahre alt, als sie ihre Taschen packen musste und zu ihrer Pflegefamilie zog. Die Behörden waren der Ansicht, ihre depressive Mutter sei nicht mehr in der Lage, sich um die Tochter zu kümmern. Die Eltern waren seit langem getrennt, die Geschwister einige Jahr älter. Doch ein neues Zuhause fand sie am neuen Ort keines. «Es gab immer wieder Streit, die Pflegemutter hat aus jeder Mücke einen Elefanten gemacht», sagt Nina G. Am Schluss wollte sie nur noch weg.
Nina G. kannte damals keine anderen Pflegekinder, mit denen sie über ihre Sorgen hätte sprechen können. Bis ihr Betreuer sie auf das Mentoring-Programm der ZHAW hinwies. Über die Kontaktadresse erhielt sie die Nummer von Michèlle V., die das Mentoring-Angebot mitaufgebaut und selber in einer Pflegefamilie gelebt hatte. Wenige Tage später trafen sich die beiden Frauen zum ersten Mal in einem Winterthurer Kaffee. «Ich konnte endlich mit jemandem sprechen, der mich wirklich verstand. Das hat mega gutgetan», sagt Nina G. In der damals schwierigen Phase wurden die Gespräche für sie zu einer wichtigen Stütze. In der Pflegefamilie spitzte sich der Konflikt weiter zu. Wenige Tage nach ihrem 18. Geburtstag packte sie ohne Vorankündigung ihre Sachen und zog zurück zu ihrer Mutter.
Es war zugleich eine Zeit voller Umbrüche: «Auf einmal musste ich mich alleine um alles kümmern», sagt Nina G. Den Einkauf, den Haushalt, die Rechnungen, die Wohnungssuche, den Kontakt zu den Behörden. All das, was zuvor die Pflegemutter und der Beistand erledigt hatten, musste sie nun selbst übernehmen. Wenige Wochen nach dem Umzug ging auch ihre Lehre als Köchin zu Ende.
Michèlle V. hatte zwei Jahre zuvor ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie unterstützte Nina G. beim Umgang mit den Finanzen und beim Schreiben von Bewerbungen. «Ich hätte mir damals selber so eine Unterstützung gewünscht», sagt Michèlle V. Die beiden Frauen trafen sich im Abstand von einigen Wochen immer wieder zum Mittagessen und Kaffeetrinken.
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