Radikalismus: Forschende unterwegs in heikler Mission
Wer im Spannungsfeld von Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten wissenschaftlich tätig ist, leistet oft auch Vermittlungsarbeit. Das zeigt eine Studie über die Rolle von Imamen in der Prävention dschihadistischer Radikalisierung.
Ein verweigerter Handschlag gab den Ausschlag: Als im Frühjahr 2016 bekannt wurde, dass zwei Schüler aus dem Baselbiet sich aus religiösen Gründen weigern, ihrer Lehrerin die Hand zu geben, sorgte dies schweizweit für Schlagzeilen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der Vater der beiden als Imam in einer Moschee predigte, in der mutmasslich auch Muslime mit radikalen Ansichten verkehrten. So weit die Medienberichte.
Politischer Vorstoss
Wenige Wochen später reichte die damalige EVP-Nationalrätin Maja Ingold ein Postulat ein, in dem sie einen Bericht zu Vorgaben für eine Ausbildung von islamischen Geistlichen forderte. Ein knappes Jahr später wurde es von der grossen Kammer angenommen. Der Bundesrat wurde mit diesem Postulat beauftragt, in einem Bericht mit Massnahmen der Ausbildungsvoraussetzung für islamische Betreuungspersonen aufzuzeigen, wie Jugendliche in muslimischen Gemeinschaften vor «islamistischer Missionierung» geschützt und die Integration ihrer Glaubensgemeinschaften in der Schweiz aktiv gefördert werden können.
Blick zu den Nachbarn
Anfang 2019 schrieben das Bundesamt für Justiz und das Staatssekretariat für Migration das Projekt aus: «Rolle islamischer Betreuungspersonen und muslimischer Gemeinschaften bei der Prävention islamistischer Radikalisierung unter besonderer Berücksichtigung der Aus- und Weiterbildung von Imamen in der Schweiz». Das Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe der ZHAW Soziale Arbeit, das bereits zwei Studien zur Radikalisierungsprävention durchgeführt hat (siehe Box am Textende), erhielt den Auftrag.
Wir haben den Auftrag auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes und der Best Practices zu Aus- und Weiterbildung von Imamen in den Nachbarländern bearbeitet. Zudem wurden leitfadengestützte Interviews mit 28 Fachpersonen und 25 islamischen Betreuungspersonen aus drei Sprachregionen geführt.
Grosse Verantwortung
Aus den Erkenntnissen haben wir, gemeinsam mit dem Zentrum für Islam und Gesellschaft der Universität Fribourg, Empfehlungen für die konkrete Ausgestaltung von Aus- und Weiterbildungsmassnahmen formuliert. Diese waren bei Redaktionsschluss noch in der Vernehmlassung in den Kantonen. Der Bund wird unseren Studienbericht voraussichtlich im dritten Quartal 2021 der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Deshalb verzichten wir im vorliegenden Artikel darauf, von konkreten Ergebnissen und Empfehlungen zu berichten.
«Bei Auftragsforschungen wie dieser sind die Fragestellungen mehrheitlich vorgegeben, und es gibt ein sehr fokussiertes Erkenntnisinteresse.»
Stattdessen beleuchten wir die gesellschaftlichen Dynamiken und die Erfahrungen während des Forschungsprozesses. Bei Auftragsforschungen wie dieser sind die Fragestellungen mehrheitlich vorgegeben, und es gibt ein sehr fokussiertes Erkenntnisinteresse. Dennoch bieten sie auch vielfältige Chancen, am Puls gesellschaftlicher Dynamiken zu wirken. Zudem bilden die wissenschaftlichen Erkenntnisse die Grundlage für spätere politische Entscheidungen und ihre konkrete Umsetzung. Sie haben Auswirkungen auf die Betroffenen.
Die Trag- und Reichweite ist also grösser als bei vielen «freien» sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten. Als Forschende muss man sich bei Aufträgen des Bundes oder der Kantone dieser Verantwortung ständig bewusst sein. Dennoch gilt es, sich einer politischen Positionierung zu enthalten. Darüber hinaus muss man bereit sein, einen längeren diskursiven Prozess mit den Auftraggebenden und ihren Begleitgruppen zu führen, und zwar vor, während und nach dem Forschungsprojekt, insbesondere für die Validierung des Schlussberichts.
Unterschiedliche Interessen
Die Herausforderungen für Forschende sind vielfältig. Eine besteht darin, dass wir uns bei einem heiklen Thema wie der Radikalisierungsprävention in einem Spannungsfeld zwischen Auftraggebenden, der Wissenschaftlichkeit und realen Problemen islamischer Organisationen wiederfinden. Das Motiv der Auftraggebenden, also der Mehrheitsgesellschaft, ist der Wunsch nach öffentlicher Sicherheit und Einflussnahme auf die Aus- und Weiterbildung zur Verhinderung von Extremismus. Die Wissenschaftlichkeit ist der Differenzierung, der Objektivierung und dem Ethikkodex verpflichtet. Und die islamischen Organisationen wiederum vertreten die Minderheitenpositionen.
Vermittlerrolle
Als Forschende nimmt man gewissermassen eine Vermittlerrolle ein. Einerseits ist man bemüht, den politischen Entscheidungsträgern die Komplexität des Sachverhalts und der Dynamiken des Terrains näherzubringen. Andererseits versucht man, das Mehrheitsanliegen für «die Minderheit» verständlich zu machen. Auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft stehen die Befürchtungen im Vordergrund, dass Imame und muslimische Betreuungspersonen aufgrund der in ihren Herkunftsländern absolvierten Ausbildungen hier in der Schweiz religiöse Diskurse vertreten könnten, welche der Radikalisierung Auftrieb geben könnten. Ebenso, dass sie zu wenig vorbereitet und sensibilisiert sind für ihre Funktion in der Radikalisierungsprävention.
«Die meisten Imame und muslimischen Betreuungspersonen üben ihre Funktion als unbezahlte Nebentätigkeit aus und gehen ihrem Haupterwerb als Taxichauffeure, Serviceangestellte oder Selbständigerwerbende nach.»
Auf der Seite der Minderheit stehen die Ressourcenprobleme des Grossteils der islamischen Glaubensgemeinschaften. Das führt dazu, dass die meisten Imame und muslimischen Betreuungspersonen ihre Funktion als unbezahlte Nebentätigkeit ausüben und ihrem Haupterwerb als Taxichauffeure, Serviceangestellte oder Selbstständigerwerbende nachgehen. Dies stellt eine wichtige Einschränkung dar.
Hat die Mehrheitsgesellschaft ein Interesse daran, die Qualität der Aus- und Weiterbildung muslimischer Betreuungspersonen zu verbessern, dann müssten deren Anstellungsbedingungen analog zu jenen der Betreuungspersonen der christlichen Landeskirchen ausgestaltet sein. Was beachtet werden muss: Radikalisierungsphänomene spielen sich meist ausserhalb der Reichweite etablierter islamischer Gemeinschaften ab. Trotzdem kann ihnen bei der Prävention eine wichtige Funktion zur «Immunisierung» potenziell anfälliger junger Muslimas und Muslime zukommen, ebenso als Gefängnisseelsorger in der Arbeit mit extremistischen Straftäterinnen und Straftätern. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen und Realitäten muslimischer Betreuungspersonen, die der Mehrheitsgesellschaft oft nicht bewusst sind, gilt es in einer solchen Studie zu beleuchten und zu analysieren.
Spannungsfeld Verwertbarkeit
Ein weiteres häufiges Spannungsfeld bei Auftragsforschungen ist jenes der Verwertbarkeit wissenschaftlicher Analysen. Die Politik trifft nach einer dreiwertigen Logik Entscheidungen: Ein Sachverhalt muss sachlogisch richtig, gesellschaftlich akzeptiert und finanzierbar sein. Die Wissenschaft wiederum folgt der zweiwertigen Logik, wonach ein Sachverhalt wahr oder falsch ist und intersubjektiv überprüfbar sein muss.
«Eine solche Vernetzung ist wiederum für alle beteiligten Akteurinnen und Akteure von Nutzen, da wichtige Informationen zu allen gelangen und ein gemeinsam geführter Diskurs entsteht. Dieser bildet den Boden für Präventionsbemühungen.»
Zudem haben Politik beziehungsweise Verwaltung und Wissenschaft unterschiedliche Geschwindigkeiten und Fähigkeiten, vorauszuplanen. Das zwingt uns als Forschende dazu, meist mit einem sowohl fokussierten als auch umfassenden Fragekatalog in einem engen zeitlichen Korsett die Daten zu sammeln, zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen.
Verlässliche Kooperationspartnerschaft
Durch die Forschungstätigkeit in einem Feld wie jenem der muslimischen Seelsorge und der Radikalisierungsprävention entsteht ein grosses Netz von Partnerinnen und Partnern. Zu diesem können unter anderem islamische Organisationen, Integrations- und Extremismusfachstellen, Sicherheitskräfte und polizeiliche Brückenbauer, Fachleute und Forschende auf akademischer Ebene gehören. Dieser Austausch über Interviews und Fachgespräche ist unerlässlich, um sich ein Bild der Lage in der Schweiz in Bezug auf das Ziel der Auftragsforschung – und zwar in allen Landesteilen – machen zu können.
Misstrauen zwischen Mehrheit und Minderheit
Eine solche Vernetzung ist wiederum für alle beteiligten Akteurinnen und Akteure von Nutzen, da wichtige Informationen zu allen gelangen und ein gemeinsam geführter Diskurs entsteht. Dieser bildet den Boden für Präventionsbemühungen. Damit in Verbindung steht die dritte und zentrale Herausforderung, nämlich die Frage des Misstrauens respektive Vertrauens zwischen der Mehrheitsgesellschaft – allen voran den Behörden – und den im Scheinwerferlicht stehenden muslimischen Minderheiten und ihren islamischen Organisationen.
Vertrauen entsteht erst durch gegenseitiges Kennenlernen, Austausch und Kooperation über einen längeren Zeitraum und stellt somit einen Erfahrungswert dar. Dafür ist Offenheit auf beiden Seiten notwendig, ebenso sind Gremien und Formen der Zusammenarbeit mit stabilen Partnerinnen und Partnern gefragt. Durch das Problem der Radikalisierung wurde der Mehrheitsgesellschaft – und dies betrifft nicht nur jene in der Schweiz – klar, dass sie verlässliche Ansprech- und Kooperationspartnerinnen und -partner auf muslimischer Seite braucht. Die Vernetzung zwischen allen Beteiligten ist unerlässlich. So gelangen Informationen zu allen, und ein gemeinsam geführter Diskurs entsteht.
* Mirjam Eser Davolio ist Dozentin am ZHAW-Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe. Kushtrim Adili ist wiss. Mitarbeiter am selben Institut.
Mirjam Eser Davolio
ist Dozentin am ZHAW-Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe. Ihre Forschungsarbeiten im Themenbereich Radikalisierung und Extremismus bilden eine Grundlage für die Einschätzung der Phänomene – wie sie entstehen, welche Grundlagen für Prävention es gibt. Bei den verschiedenen Studien zu Rechtsextremismus wie auch zu dschihadistischer Radikalisierung liegt der Fokus der Professorin für Soziale Arbeit jeweils auf den Antworten der Zivilgesellschaft: Wie nimmt sie die Phänomene wahr? Wie reagiert sie? Welche Wirkung erzielen Interventionen? Im Gegensatz zum Forschungsstrang der Security Studies geht es weniger um die potenzielle Bedrohung der inneren Sicherheit der Schweiz als vielmehr um den «besonnenen» Umgang mit der Herausforderung extremistischer Ideen und Personen bzw. Personengruppen.
Studien zum Thema Radikalisierung und …
Die Studien «Hintergründe jihadistischer Radikalisierung in der Schweiz» (2015) und «Aktualisierte Bestandesaufnahme und Entwicklungen dschihadistischer Radikalisierung in der Schweiz» (2019) von Mirjam Eser Davolio et al.
… Weiterbildungen
Im CAS Kommunizieren und handeln im interkulturellen Kontext (Start: März 2022) wird weiterführendes Hintergrundwissen zu interkulturellen Spannungsfeldern und Antworten der Sozialen Arbeit vermittelt. Im CAS Kriminalprävention (Start: September 2022) wird zudem die Extremismusthematik berücksichtigt.
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