Ratings für Green Finance: Künstliche Intelligenz statt Handgelenk mal Pi

30.11.2021
4/2021

Ist eine Aktie oder eine Anleihe nachhaltig? Unzählige Ratings und Labels geben darüber Auskunft. Bloss: Die Kriterien sind schwammig, die Einstufungen oft widersprüchlich. Das will die ZHAW mit dem Einbezug von Patentdaten und Künstlicher Intelligenz (KI) ändern.

Wer heutzutage Geld anlegt, will nicht nur das Vermögen vermehren, sondern auch ein bisschen die Welt retten – oder zumindest die Klimawende erleichtern. «Nachhaltigkeit ist in der Finanzindustrie ein Megatrend», sagt Jan-Alexander Posth vom ZHAW Institut für Wealth & Asset Management. Davon zeugt die wachsende Angebotspalette in der Branche. Der Finanzdatenanbieter Morningstar zählt 7486 Nachhaltigkeitsfonds, oft tragen sie die Bezeichnung ESG im Namen. Das Kürzel steht für die Berücksichtigung der Auswirkungen auf Umwelt (Environment) sowie Menschen (Social) und für eine Einstufung der Unternehmensführung (Governance). In den ersten neun Monaten 2021 haben sich die Anlagen in diese Fonds laut Morningstar auf 3893 Milliarden US-Dollar verdoppelt. Gelder, die nach ESG-Kriterien direkt in Aktien, Obligationen oder andere Finanzinstrumente investiert werden, sind in dieser Summe noch nicht mal eingerechnet. 

ESG-Ratings für Pensionskassen

Institutionelle Investoren wie Pensionskassen richten ihre Anlagen ebenfalls verstärkt an ESG-Kriterien aus. Gemäss dem Schweizer Pensionskassen-Index der Grossbank Credit Suisse (CS) haben diese Vorsorgeeinrichtungen 32,1 Prozent ihrer Gelder «sehr nachhaltig» angelegt. Massgeblich für diese Einschätzung sind die ESG-Ratings der eingesetzten Finanzprodukte durch den Finanzdienstleister MSCI. 

«Unser Anspruch ist es, verlässlichere Massstäbe für die Auswahl eines grünen, nachhaltigen Investments bereitzustellen.»

Jan-Alexander Posth, Institut für Wealth & Asset Management

Die Sache hat allerdings einen Haken. Bei den ESG-Ratings komme es vor, dass die eine Ratingagentur ein Unternehmen mit «gut» benote, die andere Agentur aber zum gegenteiligen Schluss komme, sagt Jan-Alexander Posth, zu dessen Forschungsschwerpunkten Sustainable Finance sowie Digitalisierung & Künstliche Intelligenz gehören. Das heisst: Wer nachhaltig investieren will, stochert im Nebel. Genauso geht es Unternehmen, die sich gegen den Klimawandel stemmen wollen. Für sie bleibt rätselhaft, was sie konkret ändern müssen.

Auswirkungen von Bergbau auf Biodiversität

Hier hakt das Institut für Wealth & Asset Management ein. «Unser Anspruch ist es, verlässlichere Massstäbe für die Auswahl eines grünen, nachhaltigen Investments bereitzustellen», erklärt Posth, selbst promovierter Physiker und lange in der Finanzbranche tätig. Dabei kommt Künstliche Intelligenz zum Zug. Ein Projekt will beispielsweise Satellitendaten nutzen, um die Auswirkungen von Bergbauunternehmen auf die Biodiversität aufzuzeigen. Dabei geht es nicht nur darum, mit gewöhnlichen Satellitenbildern Abholzungen von Urwald aufzuspüren. Vielmehr sollen auch multispektrale Daten genutzt werden, die vom Infrarot- bis in den Radarbereich reichen und recht detaillierte Aussagen über Pflanzenarten, Geländeformationen und vieles mehr erlauben.

2,5 Millionen Patente als Datenbasis

Während dieses Vorhaben unter der Federführung von Tomasz Orpiszewski in der Anfangsphase steht, befindet sich ein zweites Projekt mitten in der Umsetzung. Hier geht es darum, wie nachhaltig die Technologien eines Unternehmens sind. Dieses Projekt wertet das Patentportfolio eines Unternehmens KI-gestützt aus und identifiziert so Firmen, die zum Beispiel im Bereich CO2-Verminderung besonders aktiv Innovationen vorantreiben. 

Die Datenbasis ist in einem ersten Schritt ein Satz mit 2,5 Millionen Patenten von 1990 bis 2021 in englischer Sprache. Sie stammen aus mehreren Ländern und decken die Patentklasse Y02 des Europäischen Patentamts mit den klimarelevanten Technologien ab (Climate Mitigation Technologies). Das von der Innosuisse finanzierte Projekt läuft gemeinsam mit der Universität Basel und dem Projektpartner EconSight GmbH, der sich auf die Analyse des Wettbewerbsumfelds in Zukunftstechnologien spezialisiert hat. «Was eine Firma heute an Patenten einreicht, wird in der Regel in drei bis vier Jahren am Markt eingesetzt», erläutert Jochen Spuck, Chief Technology Officer von EconSight. Er unterzieht Unternehmen vertieften Patentanalysen und identifiziert so jene, die im Klimawandel punkten werden. Die Ergebnisse sind manchmal verblüffend. Die Erdölkonzerne Shell, Exxon und Total zum Beispiel bemühen sich auf den ersten Blick gleichermassen um Nachhaltigkeit, doch Spuck ist überzeugt, dass die französische Total dank einer Vielzahl von relevanten «grünen» Patenten – etwa in den Bereichen Photovoltaik, Batterietechnologie oder Automation – ihre beiden Konkurrenten deutlich überflügeln wird.

«Die Maschine erkennt also, ob ‘Bank’ für eine Sitzgelegenheit im Park steht oder für eine Bank, bei der ich ein Konto eröffnen kann.»

David Jaggi, Institut für Wealth & Asset Management

Tausende von Patenten hat EconSight bereits klassifiziert. Sie kommen nun als Daten-Lernsatz auf eine Deep-Learning-Workstation, erklärt David Jaggi, Mitglied in Posths Projektteam. Dabei handelt es sich um einen besonders leistungsfähigen Computer, der für den Einsatz mit Künstlicher Intelligenz optimiert ist. Er durchforstet die Patenttexte mit einem Deep-Learning-Sprachmodul, das nicht nur einzelne Wörter, sondern auch ihren Kontext versteht. «Die Maschine erkennt also, ob ‘Bank’ für eine Sitzgelegenheit im Park steht oder für eine Bank, bei der ich ein Konto eröffnen kann», sagt David Jaggi. Mit dem Lernsatz und einem Teil der 2,5 Millionen Patente trainiert er Computer. Jeden Patenttext stellt er numerisch dar, vergleicht automatisch Muster und Zusammenhänge. Dann gilt es ernst: ein erster Durchlauf, bei dem ein bislang nicht benutzter Satz an Patenten eingesetzt wird. «Dabei zeigt sich, wie gut der Algorithmus mit Daten zurechtkommt, die er noch nie gesehen hat», sagt Jaggi. 

Künstliche Intelligenz wird trainiert

Ablesen lässt sich der Erfolg an jenen Patenten und Unternehmen, die schon EconSight bewertet hatte. Kommt der Computer zu einem vergleichbaren Resultat? Falls nicht, ist Nachsitzen angesagt: Justierungen vornehmen, am Algorithmus feilen, neue Trainingsrunden absolvieren, bis das Ziel erreicht ist: eine verlässliche Einstufung, wie gut eine Firma in den klimarelevanten Technologiefeldern aufgestellt ist. Bislang rechne fast jeder ESG-Ratinganbieter nach einer anderen Methodik, sagt Projektteammitglied Linus Grob, «deshalb sind die Resultate der verschiedenen Ratinganbieter halt schlecht vergleichbar». Etablierte Kennzahlen fehlen noch, zudem beruhen viele Angaben auf kaum überprüfbaren Selbstdeklarationen der Unternehmen.

Ohne verlässliche Zahlen kein Wandel

Ein transparentes, belastbares Rating hat einen grossen Stellenwert, wie Projektleiter Posth verdeutlicht: «Um den Wandel zu einer nachhaltigen Gesellschaft zu schaffen, müssen wir die Finanzströme so umlenken, dass innovative Ansätze und nachhaltige Technologien begünstigt, klimaschädigende Produktionsweisen aber verteuert werden.» Umlenken ohne Leitplanken und Wegweiser sei ein Ding der Unmöglichkeit: «Fehlen verlässliche Daten und Vorgaben zur Entscheidungsfindung, missglückt letztendlich auch der Wandel.»

Die grüne Revolution in der Versicherungswelt

Die Versicherungsbranche ist angesichts der Klimaveränderungen speziell gefordert: Naturkatastrophen verursachen immense Schäden an Infrastruktur und fordern Verletzte und Todesopfer. Es gilt, neue Risiken zu erkennen und sie richtig einschätzen zu können. In den hochversicherten, reichen Ländern steigen die Schadenssummen. Das Institut für Risk & Insurance der School of Management and Law hat fünf Thesen formuliert, welche die Versicherungsindustrie in Zukunft betreffen werden:

  • «Nicht nur antizipieren, sondern handeln.»
  • «Die Klimaveränderungen bringen die Gesellschaft systematisch in Lebensgefahr.»
  • «Versicherung als systemrelevante Sicherungsstrategie der Gesellschaft ist dadurch in Frage gestellt.»
  • Die nötigen Anpassungsleistungen müssen über die ganze Wertschöpfungskette antizipiert werden.»
  • «Ziel sind ethisch, gesellschaftlich, organisatorisch und wirtschaftlich nachhaltige Lösungen.»

Dabei geht es um Risikomanagement, sich verändernde Kundenbedürfnisse, CO₂-Reduktionsziele, nachhaltiges Investieren oder grüne Produkte. Vertieft wurden diese Thesen an einem Webinar, das auf einem Executive-Programm der School of Management and Law mit dem Singapore College basiert. 

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