Regionalität ist das neue Bio
Bei rekordhohen Lebensmittelverkäufen wurde zu mehr «gesunden» und zu Bio-Produkten gegriffen. Wie ist unsere Haltung zu Nahrungsmitteln? Dies untersuchen ZHAW-Forschende, mit dem Ziel von mehr Nachhaltigkeit.
Im Homeoffice und wegen geschlossener Restaurants haben die Schweizerinnen und Schweizer im vergangenen Jahr mehr selbst gekocht. Die Verkaufszahlen bei Lebensmitteln stiegen dabei auf den Rekordwert von 30 Milliarden Franken, ein Plus von 11,3 Prozent. Vor allem Früchte und Gemüse, die für eine gute Gesundheitswirkung bekannt sind, waren verstärkt gefragt, heisst es in einer Mitteilung des Bundesamts für Landwirtschaft. 2020 landeten noch viel mehr «gesunde» Produkte und solche mit Biolabel in den Einkaufskörben als sonst. Ist die Wertschätzung für Lebensmittel gestiegen? Und was versteht man eigentlich darunter?
Was heisst Wertschätzung?
Diese Fragen untersuchen ZHAW-Ernährungswissenschaftlerinnen, denn: «Alle fordern mehr Wertschätzung für Lebensmittel, aber niemand kann sagen, was das eigentlich bedeutet», sagt Christine Brombach, Professorin in der Forschungsgruppe für Lebensmittel-Sensorik am ZHAW-Departement Life Sciences und Facility Management in Wädenswil. Dieses Defizit will die Ernährungswissenschaftlerin beheben. Eine Auswertung der Literatur ergab: Es gibt kaum Studien zum Thema mit einer einheitlichen Definition.
«Es geht um ein Bewusstsein dafür, wie viel Arbeit, wie viele Menschen, wie viele Ressourcen hinter den Produkten stecken, die ich täglich zu mir nehme.»
Meist erscheint der Begriff «Wertschätzung von Lebensmitteln» heute im Zusammenhang mit der Vermeidung von Foodwaste. «Das ist sicher ein wichtiger Aspekt, aber Wertschätzung umfasst noch viel mehr», sagt Brombach. «Es geht um eine innere Haltung. Um ein Bewusstsein dafür, wie viel Arbeit, wie viele Menschen, wie viele Ressourcen hinter den Produkten stecken, die ich täglich zu mir nehme. Essen ist viel mehr als blosse Nährstoff-Aufnahme.»
Unser täglich Brot
Als Beispiel nennt Christine Brombach die Generation unserer Grosseltern, die noch aus eigener Erfahrung wusste, dass Nahrungsmittel nichts Selbstverständliches sind und wie viel Mühe ihre Herstellung bedeutet. Entsprechend dankbar waren sie für ihr täglich Brot. Diese Haltung, die in der abendländischen Tradition fusst, ist teilweise bis heute zu spüren. «Wenn wir heute einen nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln fordern, meinen wir damit letztlich nichts anderes, als unsere Grosseltern meinten, wenn sie sagten, man müsse haushälterisch handeln.»
Um den Begriff der Wertschätzung besser einzugrenzen und die Haltung der jüngeren Generation zu ergründen, hat Brombach ein mehrteiliges Forschungsvorhaben gestartet, an dem ihr Team und teilweise auch Studierende im Rahmen des Unterrichts beteiligt sind. Auf der Basis von Literaturrecherchen und von qualitativen Interviews wurde ein Fragebogen erarbeitet und im Oktober 2019 an sämtliche Studierende der ZHAW verschickt. Gut tausend Fragebogen kamen zurück und konnten ausgewertet werden.
Rezepte für altes Brot
Das Resultat zum Foodwaste lässt aufhorchen: Immerhin 64 Prozent der Antwortenden geben an, Lebensmittel vollständig zu verwerten. Die allermeisten Studierenden kennen auch ein oder mehrere Rezepte, die sich zur Verwertung von altem Brot eignen, etwa Fotzelschnitten. Der Umgang mit Brot stehe stellvertretend für andere Nahrungsmittel, da Brot «ein Sinnbild für ein kulturell wichtiges, symbolbehaftetes und lebenserhaltendes Lebensmittel ist», heisst es in der Studie. Die Antworten darf man also als Ausdruck einer gewissen Wertschätzung für Lebensmittel lesen.
«Irgendwoher müssen die 37 Prozent der essbaren Lebensmittel ja kommen, die in der Schweiz verschwendet werden.»
Es gibt allerdings mehrere Einschränkungen: Die Zahlen beruhen auf Selbstauskunft, die naturgemäss nicht immer objektiv ist. Ausserdem ist die Umfrage nicht repräsentativ: Die Teilnehmenden sind alle junge Studierende, und meist machen vorwiegend jene mit, die ohnehin eine Affinität zum Thema haben. «Das spiegelt nicht die ganze Gesellschaft», sagt Christine Brombach. «Irgendwoher müssen die 37 Prozent der essbaren Lebensmittel ja kommen, die in der Schweiz verschwendet werden.»
Geschmack steht zuoberst
Wenn man direkt nach den wertgebenden Eigenschaften von Lebensmitteln fragt, so steht die Nachhaltigkeit auch bei den Studierenden nicht zuoberst. In der Umfrage kamen Geschmack, Gesundheit und Frische auf die ersten Plätze – Umwelt- und soziale Kriterien folgen erst danach (siehe Grafik 1). Für die Männer ist der Geschmack noch wichtiger als für die Frauen, die dafür die Gesundheit höher werten als Männer. «Dieser Unterschied ist nicht überraschend, wir kennen ihn aus anderen Studien», sagt Brombach. «Ansonsten unterscheiden sich die Geschlechter nur wenig.»
Bei der Frage, worauf man beim Einkaufen achte, fallen die Antworten nochmals ein wenig anders aus (siehe zweite Grafik). Hier schwingt die Regionalität obenaus. «Regional ist das neue Bio», sagt Brombach dazu. «Wenn ein Produkt in der Schweiz hergestellt wurde, kann ich davon ausgehen, dass Arbeits- und Umweltstandards eingehalten werden. Ausserdem bleibt das Geld im lokalen Wirtschaftskreislauf. Auch das gehört zur Nachhaltigkeit.»
Die Forschenden haben ihre Online-Umfrage im Mai 2020 während des Corona-Lockdowns wiederholt. Die Resultate waren ähnlich wie 2019, was Christine Brombach wenig überrascht: Wertschätzung sei eine Grundeinstellung, die sich nicht so schnell verändere. «Für einen Wertewandel bräuchte es grössere Einschnitte, etwa eine dauerhafte Versorgungskrise. Das brächte auch einen ganz anderen Umgang mit Foodwaste mit sich. Jetzt hatten wir zwar den einen oder anderen kurzzeitigen Engpass, aber niemand musste hungern.»
Sehr wohl verändert hat sich im Lockdown hingegen der alltägliche Umgang mit Kochen und Essen, wie Zusatzfragen zeigen. So gaben 82 Prozent der Studierenden im Mai 2020 an, mehr zu kochen. 55 Prozent stellten Lebensmittel her, die sie sonst verarbeitet gekauft hätten – 39 Prozent buken eigenes Brot. Könnte es nicht sein, dass diese neuen Erfahrungen zu einem langfristig anderen Umgang mit Lebensmitteln führen?
Mehr Ernährungsausbildung
Brombach ist wenig optimistisch: «Der Mensch neigt dazu, rasch in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, sobald es möglich ist. Die Corona-Krise ist vermutlich zu kurz, um das nachhaltig zu verändern.» Kommt hinzu, dass bewusstes Einkaufen, Kochen und Selber-Machen sehr zeitintensiv ist. Sobald die Zeit wieder knapper wird, dürften die meisten wieder den bequemeren Weg gehen.
Schliesslich haben manche Menschen im Lockdown auch die Erfahrung gemacht, dass es mit ihren Kochkünsten doch nicht so weit her ist. Christine Brombachs Hoffnung ist, dass es in diesem Bereich zu Veränderungen kommt: «Die Ernährungsausbildung muss wieder einen viel grösseren Stellenwert bekommen.» Ihr schwebt ein obligatorischer Hauswirtschaftsunterricht während der ganzen Schulzeit vor, der nicht bloss das Kochen lehrt, sondern allgemein die Kompetenz zum nachhaltigen Umgang mit Konsumgütern vermittelt. «So liesse sich auch die Wertschätzung von Lebensmitteln wieder stärken.»
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