
Schwierige Gespräche mit virtuellem Gegenüber trainieren
Psychische Gewalt in der Erziehung ist in der Schweiz weit verbreitet, lässt sich aber oft nur schwer erkennen. In einem Virtual-Reality-Szenario können heikle Abklärungsgespräche trainiert werden.
Ob Kinder immer wieder heftig beschimpft werden, ob ihnen gedroht wird oder die Liebe entzogen: Psychische Gewalt in der Erziehung ist in der Schweiz weit verbreitet. Gemäss einer aktuellen Erhebung von Kinderschutz Schweiz verhält sich fast ein Fünftel der befragen Eltern regelmässig auf solche Weise, gut ein Drittel ab und zu. Doch längst nicht alle Fälle werden erkannt. Emotionale Gewalt an Kindern lässt sich schwer erheben, gerade über Selbstberichte.
Joel Gautschi, Forscher und Dozent am Departement Soziale Arbeit, macht zwei Hauptgründe dafür aus: «Zum einen gibt es kein einheitliches Verständnis, was emotionale Kindesmisshandlung eigentlich ist.» Ausserdem fehle es an strukturierten Instrumenten, um Beurteilungsgespräche mit den Eltern zu führen. Die ZHAW hat gemeinsam mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) deshalb den Schulungsservice SAM entwickelt. SAM steht für Simulierte Abklärung von Kindesmisshandlung (Simulated Assessment of Child Maltreatment) und richtet sich an Studierende und Fachleute der Sozialen Arbeit.
Virtuelle Elternteile mit verschiedenen Interaktionsstilen
Die von der Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) geförderte Schulungsplattform umfasst mehrere Elemente, sagt Nicole Fölsterl, Dozentin und Forscherin im Studienbereich Interaction Design der ZHdK, die das Projekt zusammen mit Gautschi leitet. Dazu gehören Informationen zu psychischer Gewalt an Kindern und strukturierter Gesprächsführung, ebenso ein standardisierter Interviewleitfaden, der aus zwei US-amerikanischen Instrumenten adaptiert und weiterentwickelt wurde.
Um diesen Leitfaden zu üben, wird er als Erstes mit einem Chatbot angewendet. Der nächste Schritt ist eine Gesprächssimulation in einer Virtual-Reality-Umgebung (VR). Die Teilnehmenden können hier aus drei virtuellen Persönlichkeitsprofilen wählen, die je eine individuelle Biografie und einen spezifischen Interaktionsstil haben: kooperativ, passiv-aggressiv oder aggressiv. Für die Entwicklung der Charaktere haben sich Fölsterl und Gautschi mit Fachleuten ausgetauscht und auf anonymisierte Beschreibungen von realen Fällen gestützt.

«Die Gesprächserfahrung ist einerseits massgeschneidert, andererseits aber auch flexibel und adaptiv.»
«Massgeschneiderte und gleichzeitig adaptive Szenarien»
Dass eine strukturierte Gesprächsführung in realistischen Szenarien trainiert werden kann, ist für die Forschenden unabdingbar: «Solange man den Leitfaden nicht verinnerlicht hat, fällt man gerade in schwierigen Konversationssituationen rasch auf intuitive Muster zurück», sagt Gautschi. Das Üben in der VR-Simulation schult einen darin, auch in solchen Momenten fokussiert zu bleiben, das eigene Verhalten zu reflektieren und Voreingenommenheit zu erkennen.
Das immersive und interaktive Setting weist gegenüber analogen Methoden wie dem Rollenspiel den Vorteil auf, dass das Gesprächsszenario beliebig verändert und individuellen Trainingszielen angepasst werden kann. So hat der virtuelle Elternteil vielleicht einmal eine Lernschwierigkeit oder die Abklärung wird etwa vom Büro in ein Wohnzimmer verlegt. Gleichzeitig sind die Antworten des virtuellen Gegenübers nicht von vornherein festgelegt, sondern werden aus dem Moment heraus generiert. «Die Gesprächserfahrung ist einerseits massgeschneidert, andererseits aber auch flexibel und adaptiv», sagt Gautschi. «Das war die grosse Innovation für uns.» Möglich sei dies nur dank Large Language Models gewesen, ergänzt Fölsterl. «Noch vor wenigen Jahren hätten wir viel Zeit und Geld in die Erarbeitung eines interaktiven Drehbuchs und das Charakterdesign investieren müssen.»
Service für schwierige Gesprächssituationen aller Art
Der Prototyp des Schulungsservices SAM wird noch bis im Sommer 2025 weiterentwickelt, dann soll er in einer Kontrollstudie auf Wirksamkeit und Marktpotenzial hin evaluiert werden. Im besten Fall kommt das Lernangebot irgendwann über den konkreten Anwendungsfall hinaus zum Einsatz und wird mit neuen Inhalten gefüllt. «Wir haben die Technologie so angelegt, dass sie von allen genutzt werden kann, die mit schwierigen Gesprächssituationen zu tun haben», sagt Fölsterl. «Es ist schliesslich ein breites Feld.»
Weitere Infos
Zum Projekt auf der Website der DIZH
Hinter den Kulissen
Wie fühlt sich ein Gespräch mit SAM an und mit welchen Fragen setzen sich die verschiedenen Beteiligten der ZHAW und der ZhdK auseinander? Das Video bietet Einblick in die Entwicklung der Schulungsplattform.
(Headerbild: Adobestock/Drobot Dean)
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