Seine Ideen sollen Gemeinden altersfreundlicher machen
Der ZHAW-Absolvent der Sozialen Arbeit Simon Stocker ist Projektleiter bei GERONTOLOGIE CH für den Bereich Alterspolitik. Der frühere Schaffhauser Stadtrat entwickelt Ideen für mehr Lebensqualität im Alter.
Die Mittagssonne leuchtet durchs Fenster, als Simon Stocker die Tür öffnet, die direkt in die Wohnküche führt. Auf dem Tisch trocknen leere Babyschoppen und Nuggis: Vor einigen Monaten ist der 40-Jährige Vater geworden.
Beruflich befasst er sich mit Menschen am anderen Ende der Lebensspanne. Stocker ist Experte für Alterspolitik. Warum dieses Berufsfeld? «Ich mag alte Menschen», begründet er seine Berufswahl. «All das angesammelte Wissen. Diese Gelassenheit. Eine überzogene individualistische Anspruchshaltung ist den meisten von ihnen fremd», findet er. «Man verwendet dafür auch ein altmodisches, aber treffendes Wort: Dankbarkeit.»
Wirkt an der Umsetzung der Altersstrategie 2035 mit
Die Familienwohnung in Zürich-Wipkingen dient auch als Stockers Büro. Er ist Projektleiter bei GERONTOLOGIE CH, einer Plattform für Lebensqualität im Alter. Zudem wirkt er auf Mandatsbasis bei der Umsetzung der Altersstrategie 2035 der Stadt Zürich mit.
Seit der gebürtige Schaffhauser in den nuller Jahren an der ZHAW Soziale Arbeit studierte, setzt er sich intensiv mit Alterspolitik auseinander. «Der öffentliche Diskurs ist leider oftmals negativ konnotiert», findet er. «Ständig wird über Kosten gesprochen, dabei sind diese Menschen enorme Ressourcen für das Gemeindewesen. Das sollte man nutzen, indem man neue Formen der Mitwirkung schafft.»
«Ich hatte ein Praktikum auf einer Demenzabteilung gemacht. Das war eine so positive Erfahrung.»
Noch vor seinem Bachelorabschluss Anfang 2008 bewarb er sich um eine Stelle bei Pro Senectute. «Ich hatte ein Praktikum auf einer Demenzabteilung gemacht. Das war eine so positive Erfahrung, dass ich fortan in diesem Fachbereich tätig sein wollte und nirgendwo anders», erzählt er.
Stocker bekam die Stelle und wurde in den Bezirken Affoltern und Dietikon für Gemeindliche Altersarbeit zuständig. «Das Einzugsgebiet bietet eine spannende Kombination, von städtischer Peripherie bis zum 500-Seelen-Dorf ist alles dabei», erinnert er sich. Auch politisch war es für ihn herausfordernd in einem Umfeld, das in bürgerlichen Händen liegt. Dennoch blieb ihm nebenbei genug Zeit für einen Master of Advanced Studies in Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung an der Hochschule Luzern.
Selbstständiger Berater
Schliesslich zog es ihn in die Selbstständigkeit. Gemeinsam mit einer Kollegin beriet er während einiger Monate im Stadtentwicklungs- und Sozialbereich verschiedene Schweizer Gemeinden und Altersheime. «Eigentlich wollte ich damals ganz auf diese Karte setzen, aber dann wählte man mich ‹dummerweise› in den Schaffhauser Stadtrat.» Simon Stocker lacht. Das war ironisch gemeint. Natürlich sei sein Interesse am Amt ernsthaft gewesen: «Wenn schon kandidieren, dann richtig.» Man kann sich gut vorstellen, wie er die Wählerinnen und Wähler überzeugt: Er spricht eloquent, beweist Bodenhaftung. Man spürt sein Engagement. Er wirkt nahbar.
Zwischen Studium und Kommunalpolitik
Als Politiker der Alternativen Liste war er bereits bekannt in seiner Heimat. Während seines Bachelorstudiums sass er im Grossen Stadtrat, danach im Stadtschulrat. Nach der Wahl bekam er 2013 den Sitz des Sozial- und Sicherheitsreferenten – und war unter anderem zuständig für die Altersheime.
Die politischen Gestaltungsmöglichkeiten als Stadtrat seien inspirierend gewesen, sagt er: «Aber nach einer Weile reizte mich eine fachliche Vertiefung, ich wollte mir noch mehr Rüstzeug aneignen.» Und so ging er zurück an die ZHAW für den Master, damals noch ein Kooperationsstudiengang mit der Hochschule Luzern, den er berufsbegleitend absolvierte. Mittlerweile ist er in Luzern auch als Aussendozent tätig.
«Sozialmanagement- und Führungsfragen haben mich schon immer beschäftigt, und das Masterstudium ist die ideale Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen.»
«Sozialmanagement- und Führungsfragen haben mich schon immer beschäftigt, und das Masterstudium ist die ideale Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen», ist Stocker überzeugt. Auch die Lernatmosphäre schätzte er sehr, vor allem vom zentral gelegenen Toni-Areal schwärmt er: «Ein toller Ort!»
Schon bald nach seinem Masterabschluss spürte Simon Stocker erneut den Drang nach Veränderung. Fast zwanzig Jahre war er nun in Schaffhausen in verschiedenen Funktionen aktiv, politisch, gesellschaftlich, kulturell. Eine lange Zeit. Ausserdem war seine damalige Freundin – heute seine Ehefrau – Leiterin eines historischen Museum in Berlin. Der Familienwunsch sei mitunter ein Grund dafür gewesen, dass er im Herbst 2019 bekannt gab, bei den Wahlen im folgenden Jahr nicht mehr zu anzutreten.
Abschied von der Politik
Und dann kam Corona. Gerade für Altersheime bedeutete die Pandemie höchste Verunsicherung. «Eine Frau rief mich an und weinte, weil sie ihre sterbende Mutter nicht besuchen durfte», erinnert sich Stocker. Einer von vielen schwierigen Momenten für den damaligen Stadtrat. Zudem begann er sich für die Zeit nach der Exekutivpolitik vorzubereiten und absolvierte berufsbegleitend an der School of Management and Law der ZHAW eine Weiterbildung in managementorientierter BWL.
Jahreswechsel 2021, neuer Lebensabschnitt. Eigentlich wollte er dieses Jahr zunächst eine Auszeit nehmen und reisen, aber eben: Corona. Also zog die junge Familie nach Zürich. Man sieht dem gut sortierten Zuhause an, dass es noch nicht allzu lange bewohnt wird – und auch nicht ständig. Wegen der Museumsstelle von Stockers Ehefrau verbringen sie viel Zeit in Berlin.
Aufbau des Programms «Altersfreundliche Gemeinden»
Statt durch Europa zu tingeln, leitet Stocker also seit Anfang Jahr bei GERONTOLOGIE CH den Bereich Alterspolitik. Ein schöner terminlicher Zufall: Gleichzeitig hat die Weltgesundheitsorganisation die Dekade des guten Alterns 2021–2030 ausgerufen. Beim bereits 1953 gegründeten Netzwerk – damals Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie SGG SSG genannt – ist er mit dem Aufbau des Programms «Altersfreundliche Gemeinden» befasst.
Mittlerweile steht die Finanzierung, jetzt geht es um den Massnahmenkatalog, den man den Gemeinden ab Oktober 2021 zur Verfügung stellen wird. Die Formulierung «zur Verfügung stellen» ist Simon Stocker wichtig: «Wir leisten kein Consulting, sondern entwerfen Programme, die wir den Gemeinden als Instrumente oder Werkzeuge anbieten.»
«Wie Seniorinnen und Senioren im öffentlichen Raum unterwegs sein können, ist essenziell für ihre Unabhängigkeit und Lebensqualität.»
Ein zweites wichtiges Standbein ist sein Mandat bei der Altersstrategie der Stadt Zürich. Diese umfasst 44 Massnahmen in vier verschiedenen Handlungsfeldern. Es geht um Wohnen, Pflege und Unterstützung, aber auch um Informationen zu Angeboten im Quartier, Teilhabe sowie Mobilität. Mit Letzterer beschäftigt sich Stocker. «Wie Seniorinnen und Senioren im öffentlichen Raum unterwegs sein können, ist essenziell für ihre Unabhängigkeit und Lebensqualität», weiss Simon Stocker. «Sitzgelegenheiten sind wichtig, ebenso Barrierefreiheit.» Die Aufhebung eines Zebrastreifens kann einer Katastrophe gleichkommen: «Einige sind vom Mischverkehr schlichtweg überfordert.»
Konzipiert die erste Alterskonferenz Zürichs
Er hat Quartierbegehungen entwickelt, am 1. Oktober – am Internationalen Tag der älteren Menschen – geht es los. Zudem konzeptioniert er die erste Alterskonferenz der Stadt Zürich mit, die Ende November stattfindet. Ab Frühjahr 2022 wird er zudem als Lehrbeauftragter an der ZHAW unterrichten.
Während Simon Stocker von den Probebegehungen erzählt, öffnet sich die Wohnungstüre: Ehefrau und Söhnchen kehren von einem Spaziergang zurück. Ist der Altersexperte bereits zum Kleinkindexperten geworden? «Von älteren Menschen verstehe ich sicherlich mehr», meint er lachend.
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