Selbstoptimierung: Genormt, getrimmt, geschönt
Schrittzähler, Jogging-Tracker und Kalorienmesser – gesunde Lebensführung lagern wir immer öfter an das Smartphone aus. Mit den Schönheitsidealen wandeln sich auch die Selbstoptimierungstrends. Doch wer bestimmt, was in den Apps als normal und als gesund gilt? Und wann wird es problematisch?
Sarahs Wecker klingelt. Sie checkt ihre Schlaf-Tracking-App – und ist unzufrieden, sie hatte zu kurze Tiefschlafphasen. Da piepst ihr Smartphone wieder, es ist Zeit zum Joggen. Diesmal will sie eine Extrarunde anhängen, so wie Julia, deren App mit Sarahs verlinkt ist. Nach dem Sport gibt’s einen Fitnessdrink. Dessen Kalorien sind leicht in die App einzutippen.
Jetzt hätte Sarah Lust auf einen Kaffee. Aber seit sie ihre Ernährung, ihre Bewegung, ihre Menstruation, ihren Schlaf und ihre Arbeits- und Entspannungszeit misst, hat sie oft ein schlechtes Gewissen. Sie macht sich lieber einen Grüntee – wegen der Antioxidantien.
Selbstoptimierung im Trend
Selbstoptimierung heisst der Trend, dem die fiktive Sarah wie viele jüngere, technikaffine Menschen folgen – und dafür gibt es unzählige Lifestyle-Apps. Medizinische Gesundheits-Apps nutzen auch Ältere, etwa chronisch Kranke mit Diabetes oder Bluthochdruck.
Hinter den meisten Applikationen stehen keine Algorithmen, sondern Menschen, sagt Mandy Scheermesser. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Physiotherapie der ZHAW und hat 2018 eine Studie publiziert zum «Quantified Self», zu den Chancen und Risiken der digitalen Selbstvermessung. Die Apps basierten laut Scheermesser auf Empfehlungen der WHO oder sogar medizinischen Studien. Wer für die Apps verantwortlich ist, sollte im App-Store ersichtlich sein.
10’000 Schritte sind beliebig
Manches sei aber beliebig, etwa die 10’000 Schritte, die Apps als Tagesziel vorgeben. Diese basierten auf einer Empfehlung eines japanischen Arztes aus den 1970er Jahren, sagt Ursula Meidert, Co-Autorin der Studie und Dozentin für Gesundheitsförderung und Prävention. «Diese Empfehlung wurde zur Vermarktung des ersten Schrittzählers verwendet. Korrekterweise müsste man nach Alter und Leistungsfähigkeit differenzieren.»
Der Drang, sich selber zu optimieren, sei so alt wie die Menschheit selbst, sagt Petra Huber, ZHAW-Dozentin für Kosmetik und Toxikologie. Attraktive Menschen werden eher angestellt oder befördert, und bereits Babys schauen attraktive Gesichter länger an. Mit den Schönheitsidealen wandelten sich auch die Selbstoptimierungstrends: «Verglichen mit den Korsagen im 17. und 18. Jahrhundert, sind die Fitness-Apps wesentlich gesünder», sagt Huber.
Ebenfalls erwiesen ist, dass es dem besser geht, der sich um sein Wohlergehen kümmert. Wichtig sei, die Relationen zu wahren, sagt Huber. Karotinoid führe zu Haut mit weniger rauer Oberfläche, und Antioxidantien helfen, negative Strahlungen abzufangen. Aber alles habe Grenzen: «Gesichtsyoga entspannt die Züge, die Zornesfalte wird man dadurch aber nicht los.»
Prävention oder Missbrauch
Nütze man die digitalen Helfer zur Prävention und Sensibilisierung, könne man seinen Lebensstil positiv verändern, sagen die Expertinnen. Junge Menschen lassen sich eher vom Nutzen von Sonnencrème überzeugen, wenn sie mit polarisierendem Licht die Pigmentschäden auf ihrer Haut entdecken. Problematisch werde das Messen, wenn es missbraucht werde, sagt Huber. Etwa bei Essstörungen und wenn es dazu führe, dass man durch die Kontrolle eines Parameters das Gefühl für den Rest des Körpers verliere.
Lifestyle-Apps sind am meisten gefragt
Dies haben auch Scheermesser und Meidert festgestellt. Hinzu komme die Herausforderung, die richtige App zu finden, sagt Meidert. Der rasant wachsende Markt sei sogar für Expertinnen unüberschaubar. Am meisten verbreitet sind Lifestyle-Apps, wie ein Blick in die App-Stores zeigt. Unter den Gesundheits- und Fitness-Apps des iPhones hatten im September 2020 die Perioden-Tracker und die Running-Apps die meisten täglichen Nutzer, bei Google sind es Schrittzähler sowie die Apps zu Fitnessarmbändern und Smartwatches.
Vorsicht Datenschutz
Da den meisten Anwendern die Zeit zur Evaluation fehlt, gilt «the winner takes it all» – oft sind das Apps von Technologiekonzernen. «Da muss man aus Datenschutzgründen skeptisch sein», warnt Scheermesser. Wenn die Server in den USA liegen, gelten die europäischen Datenschutzgesetze nicht. Vor allem bei Gratis-Apps sei Vorsicht geboten, da die Daten für personalisierte Werbung verkauft werden.
Testballone der Krankenkassen
Unter den meistgenutzten Apps sind auch solche von Krankenkassen. Wer sich sportlich betätigt, bekommt Prämien zugesprochen. Theoretisch wäre es den Versicherungen möglich, Druck auszuüben auf Personen, die Normen nicht erreichen können, sagt Meidert. Derzeit verneinten die Krankenkassen eine solche Praxis, aber man wisse zu wenig darüber, wofür die Firmen die Daten nutzen. Meidert hält die Krankenkassen-Apps für Testballone: «Sie wollen erst herausfinden, ob Kunden bereit sind, ihre Daten preiszugeben für 20 Rappen pro 10’000 Schritte.»
Besser bezüglich Inhalt und Datenschutz sind medizinische Apps von Universitäten und anderen Institutionen. Diese sind aber kaum verbreitet. «Wenn Apps nicht mehrmals pro Monat neue Features bieten, verlieren die Nutzer das Interesse», sagt Meidert. Für die Aktualisierung fehle den Institutionen aber oft das Geld.
Welche App ist die richtige?
Dennoch tue sich in diesem Bereich derzeit am meisten, sagt Scheermesser. «Physiotherapeuten und Ärzte setzen sich mit Apps auseinander und können Auskunft geben, welche Apps nützen.» In Deutschland könne man sich Apps verschreiben lassen, etwa gegen Tinnitus oder zur Sturzprävention. Um den Fachleuten eine Übersicht zu verschaffen, arbeitet die ZHAW derzeit an einer Plattform, die die medizinischen Apps vorselektioniert. Auch eHealth Suisse, die Koordinationsstelle von Bund und Kantonen, hat Empfehlungen für gute Gesundheits-Apps publiziert.
Sarah hat vor zwei Monaten mit dem intensiven Tracking begonnen und nervt sich bereits über ihr ständig mahnendes Handy. Laut der ZHAW-Studie steigen die meisten Nutzer nach drei Monaten aus. Das hat sich Sarah auch schon überlegt – oder vielleicht ein Digital Detox? Schliesslich hat ihr die Entspannungs-App weniger Bildschirmzeit empfohlen.
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