Stadtlandschaften, in denen Menschen gerne leben
Lange wurde die Schweiz dort gebaut, wo ein Autobahnanschluss in der Nähe war – unkoordiniert, unwirtlich, Boden verschleudernd. Und heute? Unterwegs mit ZHAW-Fachleuten, guter Urbanisierung auf der Spur.
Bauen ist mehr als ein Wohnhaus, ein Bürogebäude oder eine Schule hochziehen, mehr als Strassen asphaltieren und Schienen verlegen. Stets hat das Schaffen gebauter Umwelt Auswirkungen auf die Menschen und auf ihr Zusammenleben. Die Umwelt bestimmt das Alltagsleben, verändert die Gesellschaft. Wer wohnt wo? Wie kommt man zur Arbeit, auf die Joggingstrecke, in die Schule oder zur Bäckerei?Wer aber lenkt diesen Prozess der Vernetzung von Menschen, Aktivitäten und Orten? «In der Schweiz steuern vor allem die Gemeinden die bauliche Entwicklung», sagt ZHAW-Professorin Regula Iseli, Co-Leiterin des Instituts Urban Landscape. Mit ihren Bauordnungen legen sie fest, wie gebaut werden darf. Und sie definieren Bauzonen für Wohnen, Gewerbe, öffentliche Bauten, Sportanlagen oder bestimmen über Freihalte- und Erholungszonen. Der Bund gebe zwar gewisse Leitlinien vor, so Iseli, «doch die sind schwach».
«Ein unseliges Durcheinander»
Lange glaubte die Schweiz sogar, ohne solche Vorgaben auszukommen. Das funktionierte recht gut, als die Industrialisierung dem Land den ersten Urbanisierungsschub versetzte. Dann aber kamen die Boomjahre nach dem Zweiten Weltkrieg – und das Automobil. Ein enormes Wachstum brachte Wohlstand, die Massenmotorisierung der Bevölkerung und ein Autobahnnetz, das fast jede Kleinstadt an das urbane Leben anschloss. Die Agglomeration entstand, ein Flickenteppich aus alten Dorfkernen und Gewerbebauten, Hochspannungsleitungen und Wohnsiedlungen, Grünflächen und Tankstellen, Einkaufszentren und Autobahnen, der sich von Gemeinde zu Gemeinde wiederholt. «Ein unseliges Durcheinander» nannte es der Architekt und Schriftsteller Max Frisch, «halb verstädtertes Dorf und halb dörfliche Stadt.»
Stadtflucht in den 60er Jahren
Das kümmerte die Gemeinden wenig. Unbeirrt kurbelten sie ihre Wirtschaft über Einzonungen an: Hier opferte der Gemeinderat einen Kartoffelacker für Gewerbebauten, um Arbeitsplätze zu schaffen, dort eine grüne Wiese für Häuser, die gute Steuerzahler anlocken sollten. Die rasch gewachsenen Städte verloren an Attraktivität, eine regelrechte Stadtflucht setzte ein. Zu verlockend erschien vielen der Traum vom eigenen Häuschen im Grünen, zu unwirtlich die Stadt. Die Bevölkerung von Zürich etwa schrumpfte nach einem Höchststand im Jahr 1962 um einen Fünftel.
Erst in den 1970er Jahren setzte langsam ein Umdenken ein. «Die Leute begannen sich zu fragen: Was ist das für eine Stadt, die man uns da baut?», umreisst Iseli den Wandel. 1979 sagten die Stimmberechtigten Ja zum Bundesgesetz über die Raumplanung. Es vermochte noch nicht viel zu bewirken. Doch 2014 wurde es unter dem Druck der grünen Landschaftsinitiative revidiert und soll nun den Landverschleiss etwas bremsen. Es geht zwar noch immer von einer Ausdehnung der Siedlungsfläche aus – als ob der Boden ein vermehrbares Gut wäre. Doch zumindest will es das Wachstum nach innen fördern.
Verdichtung und Kreativität
Wachstum nach innen bedeutet mehr Dichte. Das funktioniert, wenn man es richtig macht. Denn urbane Qualitäten sind wieder gefragt, gerade auch bei jüngeren Generationen. Dabei spielen die kürzeren Arbeitswege und zukunftsgerichtete Mobilitätsformen eine Rolle, Einkaufsmöglichkeiten, das Wohnungsangebot, Schulen, die medizinische Versorgung oder das kulturelle Angebot. Doch Urbanität meint auch die Anregung, die eine Stadt darüber hinaus bietet: das Gewusel und den Austausch. Manches nervt, vieles inspiriert. «Die Dichte einer Stadt ist der Nährboden für die Vernetzung mit anderen, für neue Kontakte und Ideen», beschreibt es Regula Iseli. Daraus können technische Entwicklungen, unkonventionelle Lebensentwürfe und neue Jobs entstehen. Die Lust auf Urbanität ist auch in Zürich zurückgekehrt. Seit 2003 wächst die Stadt wieder Jahr für Jahr. Den einstigen Bevölkerungsrekord von 440‘180 Personen dürfte sie laut jüngsten Prognosen 2021 erreicht haben, also knapp sechzig Jahre nach dem Einbruch.
«Gute Stadt-Landschaften entstehen, wenn sich Politik, Architektur, Soziologie und Landschaftsplanung gemeinsam für gute Lösungen einsetzen und dabei die Bevölkerung miteinbeziehen.»
Was heisst nun richtig machen? Wodurch zeichnen sich gute Quartiere und Stadtteile aus? Verdichtung nach innen funktioniert nur, wenn im Gegenzug ausreichend öffentliche Räume und Grünräume eingeplant werden. Sie müssen attraktiv und gut erreichbar sein, damit sie im Alltag tatsächlich genutzt werden. Ziel einer guten Stadt-Landschaft ist es nicht nur, Wohn- und Dienstleistungsangebote schlau zu verknüpfen und verkehrsmässig gut zu erschliessen, sondern auch, Menschen sozial zu vernetzen und Orte für die Gemeinschaft anzubieten. Kontakte in lebendigen Quartieren stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt und beugen Anonymität, Desintegration und Konflikten vor.
Keine Patentrezepte
«Patentrezepte gibt es nicht, Lösungen müssen für den spezifischen Ort entwickelt werden», betont Iseli. Wichtig sei ein breit abgestütztes Vorgehen: «Die Erfahrungen aus 50 Jahren Stadtentwicklung zeigen, dass gute Stadtlandschaften dann entstehen, wenn sich Akteurinnen und Akteure aus Politik, Architektur, Soziologie und Landschaftsplanung gemeinsam für gute Lösungen einsetzen und dabei die Bevölkerung miteinbeziehen.» Oft geht es dabei um grössere Areale. Die Behörden gewähren mit Sonderbauvorschriften oder Gestaltungsplänen eine höhere Ausnützung als in der Regelbauweise vorgesehen, im Gegenzug sichern sie der Bevölkerung Grünräume oder Beiträge an die Erschliessung mit dem öffentlichen Verkehr.
Expertinnen und Experten des ZHAW-Instituts «Urban Landscape – Architektur und Städtebau des 21. Jahrhunderts» geben auf kurzen Stadtspaziergängen Einblicke in fünf gelungene Beispiele.
Die fünf Stadtspaziergänge:
- Freilager Zürich: Vorbildlich – in vieler Hinsicht
- Glattpark Opfikon: Stadtteil mit eigenem Park und See
- Zürich-West: Lebensadern und Zäsuren
- Richti Wallisellen: Die urbane Insel
- Lagerplatz Winterthur: Ein gesellschaftliches Biotop
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