Strukturelle Förderung wie bei Wissenschaft und Kunst

19.03.2019
1/2019

Strukturelle Förderung, eine europäische Netzinfrastruktur und ein Journalismus, der dem Publikum quasi die Packungsbeilage mitliefert – Journalismusprofessor Vinzenz Wyss darüber, wie man qualitativen Journalismus zukunftssicher machen könnte.

Wie war es möglich, dass der «Spiegel»-Journalist Claas Relotius Beiträge ganz oder teilweise erfinden konnte?

Vinzenz Wyss: Auch wenn in jeder und jedem von uns ein «kleiner Relotius» steckt – da wir alle ein bisschen an der Grenze zwischen Realem und Fiktionalem spielen –, halte ich den Fall Relotius eher für einen Einzelfall.

Einzelfall? Es kommt vielleicht alle zehn Jahre mal vor, dass einem Star-Journalisten so viel Vertrauen geschenkt wird, dass er in diesem Ausmass fälschen kann und das auch tut. Es waren ja wohl letztlich etwa zwölf von 60 Reportagen, bei denen nicht so gründlich geprüft wurde, wie das sonst beim «Spiegel» üblich sein soll. Man sagt dem Nachrichtenmagazin nach, es kontrolliere jeweils, ob der Eiffel-Turm noch steht, wenn dieser in einer Geschichte vorkommt. Hier hat sich eine Organisation – vor allem der «Spiegel» – von perfekt fabrizierten Geschichten blenden lassen. Es braucht aber auch eine entsprechende Persönlichkeitsstruktur des Journalisten, der, angetrieben durch den Irrsinn, dass es keiner merkt, fast süchtig weitermacht.

Die Kritiker, die über die «Lügenpresse» schimpfen, sehen sich bestätigt. Das ist natürlich Wasser auf deren Mühlen. Diese Pauschal-Kritiker, die von «Lügenpresse» sprechen, sind jedoch wenigstens hierzulande eine kleine Minderheit. Gemäss Umfragen ist nämlich das Vertrauen in die Medien seit vielen Jahren recht stabil, auch wenn mit 60 Prozent eine gesunde Skepsis immer dabei ist.

Wie müssen wir angehende Journalistinnen und Journalisten ausbilden, damit so etwas nicht so schnell wieder passiert? Vor allem vor dem Hintergrund, dass nicht nur Texte, sondern auch Fotos oder Videos gefälscht werden können. Es wäre blauäugig, zu sagen, wir könnten das verhindern, wenn wir in der Ausbildung noch stärker darauf aufmerksam machen, dass man Fakten checken muss und dass Fälschungen überall möglich sind. Das Risiko bleibt bestehen, dass einzelne Personen aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur ganz bewusst fälschen, und letztlich setzt man auch in Redaktionen Vertrauen als Steuerungsmittel ein, ohne das kaum gearbeitet werden kann

«Bei einer Geschichte, die fast schon zu schön ist, um wahr zu sein, sollte man  besonders vorsichtig und skeptisch sein.»

Ist diese Fälschungsgeschichte das Ende des viel gepriesenen Storytellings? Viele sagen: «Jetzt habt ihr den Mist. Dieses Storytelling war schon immer eine Gefahr für den Journalismus, der doch einfach seiner Chronistenpflicht nachkommen und Fakten abbilden soll.» Der Journalismus soll gefälligst seine Hände von diesem literarischen Zugriff lassen, sagen die Kritiker. Dem kann ich nur entgegenhalten: Als ob es möglich wäre, Wahrheiten abzubilden. Journalisten konstruieren immer eine Medienrealität, zum Beispiel wenn sie bestimmen müssen, wie welche Ereignisse und Protagonisten inszeniert werden. Bei einer Geschichte aber, die dadurch verblüfft, dass sie allen Ansprüchen des Storytellings genügt und fast schon zu schön ist, um wahr zu sein, da sollten Redaktionen besonders vorsichtig und skeptisch sein und besser einmal mehr nachprüfen lassen. Jede journalistische Geschichte kann nur so gut sein, wie die Fakten stimmen.

Also kein Ende des Storytelling? Das würde bedeuten, das Kind mit dem Bade auszuschütten: Storytelling bleibt ein sehr geeignetes Mittel, um Leserinnen und Leser in ihrer Lebenswelt abzuholen. Erst die Erzählung lässt verstehen. In der Ausbildung machen wir aber auch auf die Schattenseiten des deutungsmächtigen Storytellings aufmerksam. Und der Fall Relotius zeigt: Man muss zuerst einmal die Hausaufgaben des Journalismus gemacht haben, bevor erwartbar «wahre» Geschichten gut erzählt werden können. Storytelling ist eine Königsdisziplin. Wenn man zu dem Schluss kommt, eine Geschichte könne so nicht erzählt werden, weil sich bestimmte Fakten dagegen sperrig verhalten, dann stirbt sie eben oder muss umgeschrieben werden. Es ist eine Todsünde, wenn man relevante Fakten weglässt oder eben eine Geschichte mit Erfundenem anreichert, nur damit diese besser «flutscht», wie das wohl bei den Geschichten von Relotius der Fall war.

Sind fehlende Ressourcen Schuld an mangelnder Sorgfalt? Diese Erklärung konnte man im Fall Relotius hören: Es gebe einen steigenden Druck auf die Journalisten, gute, stimmige, beim Publikum eben gut «flutschende» Geschichten anzubieten. Zugleich fehle aber die Zeit, intensiv zu recherchieren. Ich denke, dass dies im Fall Relotius nicht das Hauptproblem war. Aber es besteht unter zunehmend prekären Bedingungen der Medienbranche natürlich generell die Gefahr, dass immer weniger Ressourcen wie Zeit oder Wissen vorhanden sind und dies dazu führt, dass dann einzelne Journalisten ihre Geschichten vielleicht nicht zu Ende recherchieren oder etwas zurechtbiegen und dies in der Redaktion kaum geprüft wird.

Wie kann man das verloren gegangene Vertrauen zurückgewinnen? Journalismus sollte sich heute viel stärker gegenüber seinem Publikum erklären. Ich nenne das Metakommunikation. Der «Spiegel» hat das jetzt vorbildlich gemacht, indem er den Fall Relotius untersucht und darüber kommuniziert hat. Aber auch in jedem einzelnen wichtigen journalistischen Beitrag sollte Metakommunikation betrieben werden, indem man dem Publikum quasi die Packungsbeilage mitliefert: Weshalb ist man so vorgegangen? Weshalb hat man diese Fragen gestellt und weshalb hat man gewisse Dinge vielleicht bewusst weggelassen? Diese Erklärungen fehlen bisher.

Sollte das auf einer Medienseite geschehen? Nein, nicht in einem Ghetto, wo sich vorwiegend Journalisten und Fachleute tummeln. Sondern bei allen wichtigen, oft polarisierenden Geschichten, sei es über die Flüchtlingskrise oder den Klimawandel: Journalismus sollte seine Logik gegenüber dem Publikum erklären; gerade auch um Grenzen zu ziehen beispielsweise zu pseudojournalistischen Kommunikationsangeboten etwa auf Social-Media-Plattformen. Dort simulieren ja auch strategische Kommunikatoren Journalismus. Journalisten sollten in ihren Beiträgen zeigen, wie sie arbeiten und wo etwa die Grenzen und Schwierigkeiten der oft naiv erwarteten Objektivität oder Realitätsabbildung liegen.

Wie könnte Journalismus zukunftssicher gemacht werden? Journalistische Logik zu erklären und damit Vertrauen zu schaffen, ist ein wichtiges Element auf dem Weg dahin. Aber der Journalismus hat noch viel grössere Probleme: Mit der Digitalisierung haben wir eine nie da gewesene Konkurrenz zu dem von Medien herausgebrachten Journalismus erhalten. Es wird immer schwieriger, diese Qualität zu finanzieren. Die Werbewirtschaft wendet sich immer mehr von den Medien ab und geht dahin, wo die Menschen zunehmend sind – auf Social-Media-Plattformen. Auch das Nutzungsverhalten ändert sich robust. Man ist nicht mehr ohne weiteres bereit, für News zu bezahlen, weil vieles gratis angeboten wird. Noch viel brutaler ist aber: Der Journalismus kann qualitativ noch so gut sein – wenn er sein Publikum nicht erreicht, dann nützt die Qualität auch nicht. Also muss auch das journalistische Angebot auf Social-Media-Plattformen präsent sein. Herausfordernd ist, dass es dort eben neben ganz vielen – auch pseudojournalistsichen – Angeboten steht und auch dort von Facebook, Google und Co. abhängig ist, ob es gefunden wird oder nicht.

Was müsste geschehen, damit guter Journalismus eine Chance hat? Ich sehe zwei Lösungswege. Da der Journalismus unverzichtbar ist für Demokratie und Gesellschaft, muss sich auch die Gesellschaft die Frage stellen, wie Journalismus künftig finanziert werden kann. Ähnlich wie im Bereich Wissenschaft, Bildung oder Kunst kann die Gesellschaft Vorkehrungen treffen, um Journalismus auch strukturell zu fördern. Stichworte wären hier öffentliche Finanzierung, Stiftungsmodelle – also alternative Modelle zu den herkömmlichen werbefinanzierten Modellen. Vielleicht sollte man sich zweitens als Gesellschaft in der Schweiz oder Europa auch Gedanken machen, wie man quasi in Konkurrenz zu den grossen Giganten Facebook und Google eine eigene Medieninfrastruktur bauen könnte.

«Ähnlich wie bei unserem Eisenbahnnetz könnten wir eine Infrastruktur bauen, bei der wir als Gesellschaft die Kontrolle darüber haben, wie dort mit Daten umgegangen wird.»

Das klingt ein bisschen utopisch. Wird aber durchaus diskutiert – etwa in der Eidgenössischen Medienkommission, die den Bundesrat berät. Ähnlich wie bei unserem Strom- oder Eisenbahnnetz könnten wir eine Infrastruktur bauen, bei der wir als Gesellschaft die Kontrolle selber darüber haben, wie dort mit Daten treuhänderisch umgegangen wird, dass Netzneutralität herrscht oder dass letztlich ausgehandelt wird, welchen transparenten Standards der Qualitätssicherung ein Anbieter genügen muss, um dort von dieser technologisch innovativen Infrastruktur profitieren zu können. Es darf nicht von irgendeinem undurchsichtigen Algorithmus abhängen, ob wir im Netz etwas zu sehen bekommen oder nicht. Facebook, Google und Co. können derzeit einfach die Schrauben anders drehen, was dann dazu führt, dass ein Anbieter von einem Tag auf den anderen nicht mehr gefunden wird. Da braucht es ein Gegenmittel.

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