Studieren im Lockdown
Alain Appel absolviert im zweiten Semester sein Masterstudium in Umwelt und Natürliche Ressourcen an der ZHAW in Wädenswil. Für Impact berichtet er über das Studieren in Zeiten der Corona-Pandemie. Dazu hat er auch seine Mitstudierenden sowie Dozierende befragt – was haben sie vermisst und was geschätzt.
Die Vögel zwitschern. Mein neuer Weckton aus dem Handy webt sich sanft in meinen Traum ein, bis ich aufwache und bemerke, dass auch draussen die Vögel zwitschern. Ansonsten ist es ungewohnt ruhig, weil die meisten zuhause bleiben. Wegen des Coronavirus ist der Lockdown angesagt. Für uns Studierende bedeutet das: Frühjahrssemester im Home-Office statt auf dem Campus.
Da mein Arbeitsweg nun statt einer Stunde fünf Sekunden dauert, habe ich vor der ersten Unterrichtseinheit mehr Zeit. Statt mit einem frühmorgendlichen Spurt zum Bahnhof beginne ich den Tag entspannt im Downward-facing Dog und mit anderen Übungen, die ich einem Yogalehrer auf Youtube nachmache.
Verabredungen via Zoom
Kurz nach der letzten Dehnung beginnt der Onlineunterricht über Zoom. Ich sitze in Hemd und Jogginghose vor dem Bildschirm und lade die Kursunterlagen von der Lernplattform Moodle herunter. «Schon praktisch, wenn alles digital verfügbar ist», denke ich. Doch etwas Wichtiges fehlt. Der soziale Austausch während der Pausen fällt in diesem Semester genauso weg wie das Feierabendbier nach der letzten Vorlesung. Damit wir uns unter Mitstudierenden dennoch austauschen, verabreden wir uns dieses Semester per Zoom.
Kräuter pflücken oder Termine jonglieren
«Da unsere Tochter häufig unregelmässig schläft, ist es manchmal schwierig, den geplanten Tagesablauf einzuhalten.»
Carmen Kummer, mit der ich im Masterstudiengang Umwelt und Natürliche Ressourcen studiere, erzählt, dass sie sich im Lockdown viel mehr Zeit für sich selbst nimmt. «Normalerweise habe ich immer noch etwas mehr zu tun oder würde am liebsten zehn Veranstaltungen gleichzeitig besuchen. Da mir diese Optionen nun wegfallen, gehe ich öfters im Garten Kräuter pflücken oder fahre zu einem See in der Nähe, um zu lesen.»
Da nichts los ist, kann man auch nichts verpassen. Dieses Gefühl geniessen viele meiner Mitstudierenden. Mir selber hilft es dabei, mich auf Lerninhalte zu fokussieren. So setze ich mich bis spätabends mit dem Kohlenstoffkreislauf und den blauen Wäldern in Madagaskar auseinander. Doch nicht für alle ist der Lockdown so angenehm wie für Carmen und mich.
Student, Lehrer, Vater
Roman Landolt muss drei Rollen gleichzeitig unter einen Hut bringen. «Ich bin manchmal innerhalb einer Minute erst Student, dann Lehrer und schliesslich Vater», sagt er. Die Situation stellt ihm und seiner Partnerin regelmässig die Planung auf den Kopf. «Da unsere Tochter häufig unregelmässig schläft, ist es manchmal schwierig, den geplanten Tagesablauf einzuhalten.» Normalerweise helfen seine Eltern und Schwiegereltern aus. Wegen des Coronavirus können diese die Tochter nun deutlich seltener hüten. «Dadurch ist die Koordination gerade noch schwieriger», sagt er.
Vom Klassenzimmer in den Onlineunterricht
Um die Module den Ansprüchen des Onlineunterrichts anzupassen, erhielten die Dozierenden der ZHAW eine Woche Vorbereitungszeit. «Das hat viel geholfen. Wir nahmen die Situation einfach an und machten das Beste daraus», sagt Gian-Andrea Egeler, stellvertretender Leiter des Moduls «Behavioural Change», für den das Streamen von Kursen wegen überfüllter Hörsäle nichts Neues ist. Trotz der Gelassenheit, mit der viele Dozierende den Übergang vom Präsenz- zum Onlineunterricht schafften, sieht Egeler beim Unterricht ohne physische Anwesenheit auch Nachteile: «Als Dozierender sieht man nicht alle Zuhörenden. Es ist schon anders, mit einem Computer zu sprechen, als vor einer Klasse zu stehen. Im Onlineunterricht fehlt einem das Feedback, ob einem die Studierenden folgen können oder ob sie abhängen.»
«Im virtuellen Kaffeeraum spricht man immer zu allen. Das wirkt sich schon auf die Gesprächsdynamik aus.»
Egeler glaubt nicht, dass Onlinemodule den Präsenzunterricht vollkommen ersetzen werden. Dennoch könnte sich die Bedeutung von Onlineveranstaltungen auch nach dem Lockdown nachhaltig verändert haben. Er sieht Zukunftspotenzial: «Zeichnet man Vorlesungen und Seminare zusätzlich zum Präsenzunterricht auf, kann man auch Studierende von anderswo erreichen. Auch können Dozierende aus anderen Ländern Inputs geben, ohne dass sie einen weiten Weg auf sich nehmen müssen.»
Zusammenleben trotz Isolation
Neben unzähligen Lebensbereichen hat der Lockdown auch unser Zusammenleben stark beeinflusst. Glücklich können sich jene schätzen, die in dieser Zeit in einem angenehmen Wohnverhältnis leben. Hanna, eine meiner Mitstudierenden, ist zu Beginn des Lockdowns zurück nach Bern gezogen. Durch die wegfallende Präsenzpflicht kann sie viel Zeit mit ihrem Freund verbringen, mit dem sie erst seit kurzem zusammen ist. «Ohne Lockdown würden wir uns jeweils nur am Wochenende sehen, weil er in Bern wohnt und mein WG-Zimmer in Wädenswil ist. Es ist schön, dass wir die Beziehung dank des Lockdowns mit so viel gemeinsamer Zeit beginnen konnten.»
Wie wichtig persönliche Kontakte sind, wird mir während des Corona-Semesters immer wieder bewusst. Selbst eine Videoübertragung in bester Auflösung kann die Spontaneität einer normalen Unterhaltung nicht ersetzen.
Virtuelle Kaffeepause haben eine ander Dynamik
«Wir haben jeden Morgen eine virtuelle Kaffeepause», sagt Jonathan Pachlatko, der neben dem Studium auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen arbeitet. Über Microsoft-Teams treffen sich täglich alle Mitarbeiter seiner Forschungsgruppe, um sich informell auszutauschen. Diese Gewohnheit gefällt Jonathan, doch: «Normalerweise ergeben sich in der Kaffeepause mehrere kleine Gespräche zu zweit oder zu dritt. Im virtuellen Kaffeeraum spricht man immer zu allen. Das wirkt sich schon auf die Gesprächsdynamik aus.»
Der Reiz von Zoom-Parties und Netflix-Abenden vergeht
Die Vernetzung, die wir trotz der Isolation erleben, finde ich faszinierend. Doch mir fehlen auch die spontanen Dinge, und ich finde es anstrengend, fast den ganzen Tag am Bildschirm zu verbringen. Weil ich draussen ohnehin niemanden antreffen würde, arbeite ich oftmals viel zu lange. Ziemlich schnell verfliegt auch der Reiz von Zoom-Parties und Netflix-Abenden, ich möchte wieder Dinge ganz real und analog erleben. Mit jedem Tag des Lockdowns freue ich mich auf die Zeit, in der Besuche bei Freunden und gemeinsame Grillfeste im Park wieder möglich sind. Ich freue mich darauf, bei Vogelzwitschern wieder in die Bäume zu schauen, statt instinktiv auf mein Handy.
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