Von Chatbots, Tradingrobotern und Versicherungsoptimierern
Mehr und mehr Anwendungen in der Finanzbranche basieren auf Künstlicher Intelligenz. Doch die Entwicklung braucht Zeit – keine Revolution also, sondern eine sanfte Evolution.
Klickt man auf dem Internetportal von Postfinance auf das Feld mit dem Piktogramm eines lächelnden Computers, meldet sich ein textbasiertes Dialogsystem. «Guten Tag, ich bin der digitale Assistent und beantworte gerne Ihre Fragen, wie kann ich Ihnen helfen?», eröffnet der Chatbot das Gespräch. Man kann ihn duzen oder siezen, stets gibt er artig Antwort. Also los: «Nutzt du Künstliche Intelligenz?» «Ich bin ein digitaler Assistent und funktioniere tatsächlich mit Künstlicher Intelligenz, jeden Tag lerne ich dazu.» Und sogleich macht der digitale Helfer klar, dass es ihm nicht um belangloses Plaudern, sondern ums Geschäft geht: «Bitte stellen Sie mir eine konkrete Frage zu Dienstleistungen und Produkten von Postfinance.»
Stimmabdruck
In der Finanzbranche machen sich die ersten Anwendungsfälle Künstlicher Intelligenz (KI) bemerkbar. Nicht nur mit Chatbots, auch im telefonischen Kontakt hält da und dort Künstliche Intelligenz (KI) Einzug. Bei einem Anruf nimmt Postfinance – sofern man nicht widerspricht – automatisch einen Stimmabdruck auf. Beim nächsten Telefonat muss man nicht mehr das Geburtsdatum, den Kontostand oder die erteilten Vollmachten angeben. Die Identifikation erfolgt dann automatisch im Hintergrund: Der Computer hört mit, vergleicht die Stimme am Telefon mit dem zuvor angelegten Profil und zeigt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit die akustischen Merkmale zum aufgenommenen Stimmabdruck passen. «Die Instrumente der Künstlichen Intelligenz sind besonders gut darin, Muster in Datensätzen zu erkennen», sagt Jörg Osterrieder, Professor für Finance and Risk Modelling an der ZHAW School of Engineering. Das können Zahlen sein, Bilddateien – oder eben digitalisierte Aufnahmen menschlicher Stimmen.
Tradingroboter
Ein Chatbot oder Stimmabdruck erleichtert den Alltag auf ganz praktische Weise. Doch hinter den Kulissen geschieht mehr, als diese Beispiele erahnen lassen. Die Forschung setzt sich mit deutlich weitreichenderen KI-Anwendungen für die Finanzbranche auseinander. Manche davon haben das Potenzial, grosse Veränderungen anzustossen.
Da ist zum Beispiel der Tradingroboter. Dabei handelt es sich um ein Computerprogramm, das unterschiedliche Indikatoren und Modelle nutzt, um selbstständig an der Börse zu handeln. Dabei lernt das Programm hinzu. Es berücksichtigt, ob sich ein Trade im Nachhinein als gewinnbringend entpuppt hat oder einen Verlust einfuhr. Tradingroboter scannen Marktdaten, zum Beispiel Preise oder Volumen, um zu entscheiden, was und wann sie kaufen oder verkaufen.
Kundenparkplätze und Ölvorräte aus der Luft beobachten
«Für das gewisse Extra sorgen sogenannt alternative Daten», erklärt Osterrieder. Das können Nachrichten, Twittermeldungen, Wetterdaten und mehr sein. In den USA werten Hedge Funds auf Satellitenbildern mithilfe von KI aus, wie gut die Kundenparkplätze vor den Walmart-Supermärkten besetzt sind. Je nach Resultat lohnt es sich, die Aktie zu kaufen oder zu verkaufen. Oder sie analysieren die Kassenzettel von Grossverteilern. Läuft ein Artikel besonders gut, wird der Hersteller wohl bald glänzende Geschäftszahlen vorlegen. Aus der Luft lassen sich auch Ölvorräte abschätzen. Viele Tanks in Öllagern haben schwimmende Dächer, die sich mit steigendem Lagervolumen heben. Anhand des Schattenwurfs lässt sich errechnen, wie gut das Lager gefüllt ist – und auf den Ölpreis spekulieren. Stets versucht ein Tradingroboter, Muster in den Daten zu erkennen, die sich in gewinnbringende Trades ummünzen lassen. Der ZHAW-Professor dämpft jedoch überhöhte Erwartungen: «Solche Tradingroboter werden seit zwanzig Jahren langsam und stetig weiterentwickelt, Erfolge kommen nicht schlagartig.»
Gegen Kreditkartenmissbrauch
Künstliche Intelligenz hilft in der Finanzbranche mittlerweile dabei, Kreditkartenmissbrauch zu erkennen, indem sie in der Flut von Daten nach auffälligen Mustern Ausschau hält und bei Bedarf Alarm schlägt. Die Schweizer Börse SIX will künftig KI nutzen, um schnell und günstig die Qualität von Anleihen zu bewerten. KI verbessert mancherorts auch die Entscheide bei der Kreditvergabe, wie Peter Schwendner, Professor für Banking and Finance an der ZHAW School of Management and Law erläutert: «Eine Bank kann schärfer rechnen und kompetitivere Preise anbieten, wenn sie besser abschätzen kann, ob jemand einen Kredit tatsächlich zurückzahlen wird.» Schwendner untersucht mithilfe von Korrelations-Netzwerken, einer Methode aus der KI-Kategorie «Unsupervised Learning», wie politische Einschätzungen auf die Preise von Staatsanleihen durchschlagen. Damit lassen sich auch die ansonsten schwer fassbaren Ängste der Marktteilnehmer nachvollziehbar aufzeigen, noch bevor es zu grossen Umschichtungen kommt. «Bekommt eine populistische Partei Zulauf, so wird nun sichtbar, wie der Markt reagiert und wie sich das gefühlte Risiko auf andere Länder fortpflanzt.»
EU-Projekt zu Risikomanagement
Die ZHAW ist vorne mit dabei, wenn es um Künstliche Intelligenz in der Finanzbranche geht. Sie ist Forschungspartnerin in einem europaweiten EU-Horizon-2020-Projekt zum Thema Risikomanagement («Financial Supervision and Technology Compliance Training Programme»). Das Vorhaben will die Fintechbranche und die Aufsichtsbehörden fit machen für die neuen Technologien. Bei verschiedenen Teilprojekten ist die ZHAW federführend, unter anderem bei Chancen und Risiken von neuen Internetplattformen, die Kredite ausserhalb des Bankenwesens vermitteln. 340 Personen beteiligten sich an der 4. Europäischen Konferenz zu Künstlicher Intelligenz in Finanzbranche und Industrie und weiteren Veranstaltungen, die in der ersten Septemberwoche von der ZHAW organisiert worden waren.
Digitales Versicherungsbroking
Auch bei Anwendungen in der Versicherungsbranche ist die ZHAW aktiv. Bei Firmen analysieren unabhängige Versicherungsbroker die vielen Policen. Sie optimieren die Versicherungsdeckung und verhelfen mit der Suche nach dem günstigsten Anbieter zu Prämieneinsparungen. Weil der Aufwand für die Broker beträchtlich ist, lohnte sich das bei Privatkunden bislang nicht. Das will das Projekt «Digitales Versicherungsbroking» ändern. Basis sind vorhandene Versicherungsdaten von Kunden. «Wir versuchen nicht, den menschlichen Berater zu digitalisieren, sondern in diesen Daten mithilfe Künstlicher Intelligenz typische Muster und Optimierungsmöglichkeiten zu erkennen», sagt Projektleiterin Angela Zeier Röschmann vom Zentrum für Risk & Insurance an der ZHAW School of Management and Law.
Zu viel oder zu wenig Schutz
Projektpartner ist Optimatis, eine Tochterfirma des Schweizer Vergleichsportals Comparis. Sie will Privaten auf einem Onlineportal Hinweise auf eine unnütze Überversicherung geben und aufzeigen, ob die benötigten Leistungen bei einer anderen Versicherung günstiger sind. Auch Deckungslücken sollen sichtbar werden – zum Beispiel wenn der Versicherungsschutz nicht ausreicht, um bei teuren Geräten wie Kamera, Laptop oder Smartphone einen allfälligen Diebstahl in den Ferien abzudecken. Dank KI kommen also auch private Versicherungskunden in den Genuss von Dienstleistungen, die sonst grossen Unternehmenskunden vorbehalten sind.
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