Von Gnus, Löwen und der Komplexität der Welt
Der Mensch denkt eher linear, aber die Welt ist komplex: In Zukunft werden im Beruf wie im Alltag noch mehr Kompetenzen gebraucht werden, um mit komplexen Entwicklungen umzugehen und sie positiv zu beeinflussen. Übergreifende Kompetenzen wie Systemdenken, Selbstführung oder Kreativität sind gefragt.
In der afrikanischen Savanne herrscht Dürre und Trockenheit. Das Gras verdorrt – Nahrungsmittel der dort lebenden Gnus. Die Tiere gehen auf Wanderung, riesige Herden ziehen durch die Savanne. Die Löwen folgen den grossen Herden, ihrer Nahrungsquelle. Ob es trocken ist und ein Buschfeuer ausbricht oder andererseits besonders viel regnet und das Gras üppig wächst, ob Seuchen die Herden dezimieren oder Jäger viele Gnus erlegen: All dies beeinflusst nicht nur die Grösse der Gnuherden und die Zahl der Löwen, sondern auch die Vegetation der Folgejahre. Das Ganze ist ein sehr dynamisches System.
Komplexe Systeme sind die Regel
Ein Bewohner der Savanne lebt mit dieser Dynamik – er versteht diese Abhängigkeiten intuitiv aus seiner Erfahrung. «Zu verstehen, wie sich so ein System verhält, ist einem nicht von Natur aus gegeben», sagt Andreas Schönborn, Leiter Forschungsgruppe Ökotechnologie am Departement Life Sciences und Facility Management (LSFM). Wie sich die einzelnen Variablen im Wechselspiel beeinflussen und verändern, muss man analysieren.
«Systems Literacy wird in Zukunft zu den Kernkompetenzen in der Gesellschaft gehören.»
Systems Literacy, auch Systemkompetenz, nennt sich die Fähigkeit, ein komplexes Gebilde in seiner Struktur und seinem Verhalten zu erkennen, zu beschreiben und zu modellieren. Der eher linear denkende Mensch braucht hierzu Strategien, um das Netz an Wechselwirkungen der einzelnen Variablen zu erkennen und zu verstehen – also um solche Systeme zu lesen. Im Zeitalter der Digitalisierung sei es wichtig, nicht nur die entsprechenden Werkzeuge zu bedienen, sondern auch die zugrundeliegenden Mechanismen und Techniken zu verstehen, so Schönborn. Systems Literacy werde in Zukunft zu den Kernkompetenzen in der Gesellschaft gehören.
Denn komplexe Systeme sind die Regel, nicht die Ausnahme. Das kann das Ökosystem Savanne sein, ein See oder ein technisches System. Sie alle haben Kreisläufe, reagieren auf In- und Outputs, haben Kipppunkte und interagieren mit anderen Systemen. Es kann auch um gesellschaftliche Fragen wie das grosse Thema Klimawandel oder das Bevölkerungswachstum, die Belegung von Intensivbetten oder die nächste Volksabstimmung gehen: «Immer haben wir es mit Systemen zu tun, die durch viele Faktoren dynamisch beeinflusst werden.»
«Wir reden leider noch viel zu selten über die Ethik und Konsequenzen der technologischen Entwicklung. Es ist wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, welche Grundwerte hinter einer Technologie stehen.»
Der Kipppunkt, der in der Klimadiskussion häufig genannt wird, ist ein Beispiel: Lange Zeit reagiert das träge System kaum auf Störungen – ist aber ein gewisser Punkt erreicht, wechselt es plötzlich in einen neuen Modus. Die Erwärmung des Golfstroms kann so einen Kipppunkt auslösen. «Kipppunkte sind intuitiv schwer fassbar und damit ein Sinnbild für komplexes Systemverhalten», so Schönborn.
«Komplexität navigieren» ist auch eine der sieben Fähigkeiten, die das Departement LSFM in einem Projekt eruiert hat. Hintergrund des breit angelegten Projektes ist die strategische Initiative DigitalTransformation@LSFM: «Die Hochschule soll Studierende und Weiterbildungsteilnehmende für die digitalisierte Berufswelt fit machen», so Daniela Lozza, Leiterin Digital Education am Departement und eines der vier Mitglieder des Kernteams, das die strategische Initiative umsetzt. Doch die grundlegende Frage war: «Welche Skills braucht es überhaupt in naher Zukunft auf dem Arbeitsmarkt?», so Lozza.
«Man lernt solche Kompetenzen oft durch das aktive Erleben und das Reflektieren gemachter Erfahrungen. In der modularisierten Ausbildung fehlt oft die Zeit dazu.»
Um dies zu erfahren, wurden vor zwei Jahren Dozierende und weitere Mitarbeitende, Alumni und Arbeitgebervertreterinnen und -vertreter befragt sowie ein Workshop mit Studierenden durchgeführt. Daraus kristallisierten sich sieben Schlüsselfähigkeiten: Digital Literacy, Self Leadership, Kollaboration, selbstgesteuertes Lernen, Komplexität navigieren, kritisches Hinterfragen und schliesslich Kreativität (vgl. Box «Sieben Skills für die digitale Zukunft»).
Für die Macherinnen und Macher von morgen
Das Departement Life Sciences und Facility Management hat im Rahmen einer strategischen Initiative zukunftsrelevante Kompetenzen eruiert.
DIGITAL LITERACY
Fähigkeit, digitale Tools zu verwenden und deren Funktionalität zu verstehen, sich aber auch mit den (ethischen) Konsequenzen der technologischen Entwicklung auseinandersetzen zu können.
KOLLABORATION
Sich auf Mitmenschen einlassen, einander zuhören sowie eine gemeinsame Sprache entwickeln.
KOMPLEXITÄT NAVIGIEREN
Komplexe Probleme aufschlüsseln und auf einzelne Teile herunterbrechen.
KREATIVITÄT
Neue Perspektiven einnehmen und aus den eigenen Denkmustern ausbrechen, neugierig sein – die treibende Kraft für Innovation.
KRITISCHES HINTERFRAGEN
Hinterfragen und Einordnen von Resultaten, aber auch von sich selber und seiner Umwelt. Dabei ist zentral, Gegebenheiten zu verstehen und deren Richtigkeit zu überprüfen.
SELBSTGESTEUERTES LERNEN
Verständnis für das eigene Lernverhalten und Eigeninitiative zum Aneignen von Wissen.
SELF LEADERSHIP
Die Beziehung zum Selbst als Grundlage für die Beziehung zu Menschen und zur Welt. Sie erlaubt das Erkennen der eigenen Fähigkeiten und Mängel und einen gesunden Umgang mit kognitiver Belastung.
Natürlich sei das Vermitteln von Fachwissen weiterhin zentral, sagt Beatrice Dätwyler, Dozentin für Kultur, Gesellschaft und Sprache und ebenfalls Mitglied der Kerngruppe DigitalTransformation@LSFM. «Doch eine einmal erlernte Software verändert sich oder wird ersetzt – wichtig ist deshalb, die Kompetenzen zu haben, mit dem Neuen umzugehen», sagt Dätwyler. Wichtig für Hochschulabsolventinnen und -absolventen sei nicht nur, das Neue bewältigen zu können, sondern vor allem auch Neues mitzugestalten. Diese Kompetenzen seien zudem nicht nur in der Berufswelt von morgen wichtig, sondern «ein Thema für den Alltag und die gesellschaftliche Teilhabe generell».
Die Informationen der Gefühle
Bei der Bewältigung von komplexen Problemen, hohen Anforderungen und Leistungs- und Zeitdruck kommt beispielsweise der Selbstführung und dem klugen Umgang mit den Gefühlen ein hoher Stellenwert zu. Die Beziehung zum Selbst ist die Grundlage für die Beziehung zu Menschen und zur Welt. Eigene Stärken und Schwächen sollen als Ressourcen erkannt und ein gesunder Umgang mit kognitiver Belastung gefunden werden. Es geht auch darum, die eigenen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und das eigene Handeln zu reflektieren – und dabei gleichzeitig die Perspektive und das Handeln anderer Menschen nachvollziehen zu können. Zu Selbstführung gehört auch, die Gefühle und Verhaltensmuster in der Gestaltung von Beziehungen und Gesprächen besser zu verstehen und bewusster damit umzugehen. Kurz: Es geht darum, die Informationen der eigenen Emotionen zu lesen.
«Ich wünsche mir von Absolventen die Fähigkeit, sich selber in Frage zu stellen und Ergebnisse einzuordnen.»
Neben dem Bewältigen der digitalen Transformation steht die Gesellschaft vor der noch um einiges grösseren Herausforderung des Klimawandels. Die UN-Agenda 2030 zielt denn auch auf eine Transformation zur Nachhaltigkeit ab. Kompetenzen, um sich in Themen der Nachhaltigkeit zu orientieren und sich für positive Veränderungen einzusetzen, werden im Begriff «Sustainability Literacy» zusammengefasst. Vor allen anderen ist dies das vernetzte Denken. Aber auch die Fähigkeit zum vorausschauenden Denken, um mögliche und wünschenswerte Formen der Zukunft zu verstehen und eigene Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Im Kern geht es dabei um das Gestalten der Zukunft: Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen sollen darin münden, Menschen zum konkreten Handeln zu bringen.
Schrittweise zu vernetztem Denken
Vernetztes Denken kann man lernen, aber es braucht Hilfsmittel. Zum Beispiel eine Software, wie sie das Team der Forschungsgruppe Ökotechnologie seit drei Jahren im Unterrichtsmodul Energie und Siedlung einsetzt. Mit Symbolen für Flüsse, Lager und Steuergrössen lassen sich bildhaft die Variablen aufzeichnen und so eine Siedlung als System modellieren. Die Software rechnet im Hintergrund und weist dabei auf offene Zusammenhänge hin. Beim Entwickeln des Modells lernen die Studierenden, das System zu «lesen». Die Software ist dabei sehr einfach gehalten, «sodass sie nicht behindert im Denken von Systemen», so Schönborn.
«Self Leadership ist die Grundlage für alle anderen Skills. Dadurch können andere Fähigkeiten erlernt und eigene Mängel erkannt werden. Sie erlaubt einem auch, mit der kognitiven Belastung umgehen zu können.»
Im Ökosystem Savanne etwa werde analysiert und aufgezeichnet, welche Faktoren das Wachstum des Grases beeinflussen, und diese würden mit anderen Einflussgrössen verbunden und modelliert. Im Unterrichtsmodul Energie und Siedlung ging es um energieautarke Gebäude: um die Wechselwirkungen von Input und Output von Wasser etwa, von der Produktion, Rückgewinnung oder Speicherung von Energie sowie von Heizen und Kühlen von Gebäuden – bis hin zur Frage, ob es in der Gesamtbilanz sinnvoll sei, im Garten einer autarken Siedlung auch die Lebensmittel selbst anzupflanzen, so Schönborn.
Die Welt von morgen lesen
Angesichts des rasanten Wandels durch die digitale Transformation haben sich viele Organisationen und Institutionen mit der Frage befasst, welche Fähigkeiten in der Arbeitswelt von heute und morgen nötig sind. Neben Grundlagenwissen stehen hier Metakompetenzen zuoberst auf der Liste. Solche Skills formuliert haben etwa die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit, die Europäische Union, das World Economic Forum, das Beratungsunternehmen McKinsey oder der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft bis hin zum Gottlieb Duttweiler Institute (GDI). In den Grundzügen haben alle Institutionen ähnliche Metakompetenzen entwickelt.
Das grundlegende Problem ist die Unesco mit dem Begriff «Futures Literacy» angegangen. Denn die Zukunft sei ungewiss, heisst es auf der Website der Unesco. Jeder Versuch, sie zu beschreiben, ist nur eine mehr oder weniger lineare Fortschreibung der Gegenwart. Der Mensch soll deshalb die Kompetenz haben, sich die Zukunft unterschiedlich vorstellen zu können. Dabei müssen wir uns von der Illusion verabschieden, dass es Gewissheit gibt. Denn Klimawandel, Pandemien oder Wirtschaftskrisen können die herkömmlichen Zukunftsbilder erschüttern, aufgrund derer die Menschen planen und sich orientieren.
Herausforderungen für die Lehre
Generell sei es jedoch eine Herausforderung, die Vermittlung dieser Kompetenzen systematisch in die Lehre zu integrieren, sagt Lozza. «Man lernt solche Kompetenzen oft durch das aktive Erleben und das Reflektieren gemachter Erfahrungen.» Doch in der modularisierten Ausbildung fehlen oft die Zeit, das Bewusstsein und geeignete Messkriterien für solche Kompetenzen. «Das kommt derzeit in vielen Modulen noch zu kurz.» Das Training von Kompetenzen wie Selbstführung oder selbstgesteuertem Lernen braucht Freiräume für die eigene Neugierde wie auch Fehlertoleranz, und kritisches Hinterfragen lernt sich in Auseinandersetzungen und Diskussionen. «Das bedeutet einen Kulturwandel hinsichtlich Rollen und Verantwortlichkeiten bei Lehrpersonen und Studierenden», so Dätwyler.
Schlüsselqualifikationen über die Zeit
Die Suche nach fachübergreifenden Kompetenzen ist nicht neu. Bereits 1970 hat der deutsche Bildungswissenschaftler Dieter Mertens den Begriff «Schlüsselqualifikationen» für die damalige Berufswelt formuliert. Seine Future Skills der siebziger Jahre waren unter anderem logisches und kritisches Denken sowie analytisches wie auch kooperatives und kreatives Vorgehen. Weiter sah er die Lernfähigkeit und das Wissen über Informationen, deren Wesen, Gewinnung, Verstehen und Verarbeiten als bedeutend an. Hintergrund war die Wirtschaftskrise der siebziger Jahre: Es war die Zeit von Ölschock und dem Zusammenbruch des Währungssystems mit festen Wechselkursen – das deutsche Wirtschaftswunder endete und der Club of Rome sprach von den Grenzen des Wachstums. Neue Technologien und Produktionsverfahren verdrängten Arbeitsplätze und erforderten von den Beschäftigten laufend neues Spezialwissen. So etwa Roboter- und Sensortechnik, Gen- und Biotechnologie, computergestützte Konstruktion und Fertigung oder Telekommunikation und Mikroelektronik.
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