Wie die Bergkartoffel ins Gourmetrestaurant kommt

21.03.2023
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Das heutige Ernährungssystem ist für einen grossen Teil der Treibhausgasemissionen und eine schwindende Artenvielfalt verantwortlich. Immer lauter wird deshalb der Ruf, die Ernährung nachhaltiger zu gestalten. Fachleute der Food-Branche stehen vor vielschichtigen Herausforderungen.

Sie tragen Namen wie «Heiderot», «Erdgold», «Maikönig», oder «Blaue Österreich»: die vielen Sorten der Bergkartoffel. Ihre Schale ist rosa, gelb, blau oder fast schwarz, manchmal ist ihre Form glatt und rund, manchmal knorrig und verwachsen. Auf 1000 Metern über Meer im Bündner Albulatal sind diese speziellen Kartoffelsorten vor gut 20 Jahren wieder gepflanzt worden – Sorten, die in früheren Jahrhunderten dort heimisch waren, dann aber der Konkurrenz von Flachland-Hochleistungssorten gewichen waren. Weil in der sandigen, mit Steinen durchsetzten Erde und dem rauen Bergwetter diese gängigen Kartoffelsorten aus dem Unterland nicht gediehen, versuchte es ein Biobetrieb mit alten Pro-Specie-Rara-Sorten. Es gelang, und bald vermarktete sie der Betrieb als Bergkartoffeln.

Die Bedingungen für die Landwirtschaft in Berggebieten sind alles andere als ideal. Die Anbauflächen sind klein, das Gelände steinig und steil, die Vegetationsperioden kurz, und nicht zuletzt sind die Transportwege zur Kundschaft lang. Mit Bergkartoffeln lässt sich nur etwa ein Viertel des Ertrags der Landwirtschaft des Flachlands erwirtschaften, und das nur mit viel Handarbeit. Doch ihr Geschmack hat sogar Sterneköchinnen und -köche überzeugt: Heute finden sie sich auch im Menüplan von Heiko Nieder im Hotel Dolder in Zürich oder Tanja Grandits im Restaurant Stucki in Basel.

Alpenregionen als kulinarische Räume

«Die Bergkartoffel ist ein wunderbares Beispiel für die handwerkliche Produktion von Lebensmitteln im Alpenraum», sagt Thomas Bratschi. Der Experte für nachhaltige Ernährung und regenerative Food-Systeme ist Leiter Geschäftsfeldentwicklung am Departement Life Sciences und Facility Management und Co-Studienleiter der Weiterbildungen CAS Local value networks & alpine food wie auch CAS Food Responsibility, die zum Weiterbildungspaket «Excellence in Food» gehören. «Alpine Regionen, nicht nur in der Schweiz, sind spannende kulinarische Räume», sagt Bratschi.

Vor dem Hintergrund der Probleme globaler Lieferketten und des Klimawandels sind solche lokal und nachhaltig erzeugten Produkte – nicht nur aus dem Alpenraum – immer gefragter. Sie können einen kulinarischen, sanften Tourismus und die Wiederbelebung von Diversität und der Region als Ganzes fördern sowie die Bedürfnisse von bewussteren und anspruchsvolleren Konsumentinnen und Konsumenten befriedigen.  

Vermittlung und Vernetzung

Doch der Weg der Bergkartoffel von 1000 Metern über Meer in die Grossstadt auf den Teller im Sternerestaurant ist lang und hindernisreich. Es gelingt ihr nur durch Vermittlung, Organisation und Vernetzung. Der Bündner Biobetrieb arbeitete dafür mit einem Gastroberater zusammen und schuf eine Website mit eigenem Onlineshop. Für die Lieferungen zu Gastronomie und Wiederverkauf wird der freie Raum in ohnehin durchgeführten Autofahrten anderer Lieferanten ins Unterland ausgenützt, um den CO2-Fussabdruck möglichst klein zu halten.

«Eine dezentrale kleinere Produktion kann eine Region widerstandsfähiger machen und für ökonomische Sicherheit sorgen.»

Thomas Bratschi, Co-Programmleiter CAS Local value networks & alpine food

Es gilt, über Marketingplattformen eigentliche Absatzmärkte zu schaffen und sie mit Verkaufskanälen und Abnehmern zu verbinden. Die Hürden seien teilweise sehr gross, sagt Bratschi, der selbst Workshops mit Personen aus Landwirtschaft und Gastronomie durchgeführt hat. Fleisch muss beispielsweise in den passenden Verbrauchsgrössen vakuumverpackt sein: Wer ist dafür zuständig? Bäuerin und Bauer, Metzgerin und Metzger oder am Schluss die Köchin und der Koch im Restaurant? Und was macht der Handel, der seinen Kundinnen und Kunden ein bestimmtes Gemüse anbieten möchte, wenn keine Erntezeit ist? Wie Absatzmärkte geschaffen und solche Hürden überwunden werden können, damit befasst sich der CAS Local value networks & alpine food unter anderem, der diesen Sommer in Kooperation mit der Stiftung Foodward zum ersten Mal durchgeführt wird.

Zudem gilt es, den Konsumentinnen und Konsumenten Region, Handwerk und Produkt zu erklären: Storytelling ist hier der neudeutsche Begriff für diese Produktkommunikation. Die Beschreibung von Geschichte und Herkunft, der nachhaltigen Herstellung und der Menschen, die hinter dem Produkt stehen, fördert das Vertrauen in das Produkt. Damit kann die Kaufbereitschaft geweckt oder gefördert werden, und ein solches Storytelling begründet auch die höheren Preise dieser Nischenprodukte. Das Kilo Bergkartoffeln beispielsweise kostet je nach Sorte vier- bis zehnmal so viel wie konventionell angebaute Kartoffeln aus dem Unterland.

Beitrag zum nationalen Ernährungssystem

Diese alpine Landwirtschaft ist für den Ernährungsexperten Bratschi Förderung der Diversität, von Kultur und Handwerk. «Eine solche dezentrale kleinere Produktion kann eine Region widerstandsfähiger machen und für ökonomische Sicherheit sorgen», so Bratschi.

Doch sie ist noch mehr: Sie sei auch ein Beitrag zu einem nachhaltigeren nationalen und internationalen Ernährungssystem, sagt er. Denn das globale Ernährungssystem, wie es heute ist, gilt als einer der gewichtigsten Verursacher von Treibhausgasemissionen und Umweltverschmutzung.

Das sieht auch der Leitfaden «Wege in die Ernährungszukunft der Schweiz» so, der von 42 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, darunter auch Forschende der ZHAW, Anfang Februar vorgestellt wurde. Auf 72 Seiten zeigt das wissenschaftliche Gremium «Hebel und politische Pfade» für ein nachhaltiges Ernährungssystem der Zukunft auf. So beschreibt eine von vielen vorgeschlagenen Massnahmen die «Förderung der Zucht und Anwendung von lokal standortangepassten Pflanzensorten und Nutztierrassen». Der Leitfaden war anlässlich des Ernährungssystemgipfels in Bern an Bundesrat Guy Parmelin übergeben worden: auf dem Titelbild ein Alphirt mit Rinderherde vor einer Bergkulisse und begleitet von Alphornklängen.

«Eine nachhaltige Ernährung kann nur über das ganze System und die ganze Wertschöpfungskette hinweg betrachtet werden.»

Thomas Bratschi, Co-Programmleiter CAS Food Responsibility

Management der Nachhaltigkeit

Auch wenn der Leitfaden kein politisches Gewicht hat, so zeigt er doch die weitreichenden Massnahmen auf, die nach Meinung des wissenschaftlichen Gremiums nötig sind, um die globalen Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 und auch der Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Und verschweigt auch die tiefen Zielkonflikte zwischen Ökologie und Ernährungssicherheit oder sozialer Gerechtigkeit nicht.

Unternehmen der Nahrungsmittelbranche sind hier direkt gefordert. «Das Thema Nachhaltigkeit in der Ernährung wird für Verantwortliche in Unternehmen immer wichtiger», sagt Bratschi. Dabei geht es nicht nur um Fachwissen, sondern auch um Methodenkompetenzen wie das Management der Nachhaltigkeit im Unternehmen, ausgerichtet an der jeweiligen Nachhaltigkeitsstrategie. Wie wird Nachhaltigkeit implementiert, wie gemessen, und was bedeuten die vielen Labels und Zertifikate, die es in diesem Bereich aufseiten von Produktion und Transport gibt? Wie soll Food Waste reduziert werden?

Wie soll Nachhaltigkeit in Praxis umgesetzt werden?

«Eine nachhaltige Ernährung kann nur über das ganze System und die ganze Wertschöpfungskette hinweg betrachtet werden», so Bratschi: Von der Produktion über die Lebensmittelverarbeitung und -verteilung bis hin zum Konsum von Lebensmitteln, unter Einbezug aller Stoffe, die das System hierfür aufnimmt oder abgibt. Besser noch als Netz gedacht, bei dem jeder Punkt mit dem anderen zusammenhängt: Der Produktionsbetrieb muss bei seinen Überlegungen den Konsum mitberücksichtigen, der Einkauf muss sich auch in die Bedürfnisse von Transportfirmen eindenken können (vgl. Beitrag «Planetary Health» Ausgabe Dezember 2022).

Das ist nicht einfach: «Verantwortliche wollen Verantwortung übernehmen, und die Probleme sind bekannt – doch die Frage ist, wie Nachhaltigkeit in der Praxis konkret umgesetzt werden soll», sagt Bratschi. Die Beantwortung dieser Frage stehe im Zentrum des CAS Food Responsibility, den das Departement zusammen mit Foodward seit einigen Jahren anbietet.

Und wie sollen sich Konsumentinnen und Konsumenten verhalten, wenn sie sich nachhaltig ernähren wollen? Der Rat vom Ernährungsexperten: «Erstens: essen, was schmeckt – denn so vermeidet man Food Waste. Zweitens: ausgewogen essen. Und drittens auch mässiger und bescheidener essen: weniger Fleisch, und wenn, dann nachhaltig produziertes Fleisch – und nicht nur die Filetstücke.»

Weiterbildungen zum nachhaltigeren Leben und Wohnen

Life Sciences und Facility Management

Die Lebensmittelbranche wird immer komplexer. Food-Profis müssen betriebswirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Aspekte entlang der Wertschöpfungskette vernetzen können. Das Ziel: Wachstumspotenziale ausschöpfen. Bestandteile des MAS sind unter anderem:

·        CAS Food Responsibility

·        CAS Local value networks & alpine food

·        CAS Food Quality Insight

Gut bauen heisst nachhaltig bauen. Das setzt eine durchdachte Gestaltung und umfassende Kenntnisse der sozialen Erfordernisse der Wohnsituation voraus. Wichtig ist auch die Optimierung und Sanierung von Bauten und technischen Anlagen in der Betriebsphase. Dies gilt für den Hochbau wie für die Entwicklung von Quartieren. Der MAS setzt sich aus mehreren CAS zusammen, unter anderem:

·        CAS Energiemanagement

·        CAS Gebäudemanagement

·        CAS Life Cycle Management Immobilien

Lebensmittel nachhaltig verpacken: Dabei geht es um den Aufbau einer Nachhaltigkeitsbewertung, um Life Cycle Assessment oder den Zusammenhang zwischen Design und Recycling. Ebenfalls wichtig sind Sicherheit und rechtliche Vorgaben.

Im Lehrgang stehen biodiversitätsfördernde und klimaadaptive Massnahmen und die Überzeugung der Stakeholder im Zentrum.

School of Engineering

Als Entwicklungskonzept für nachhaltige Städte, Gemeinden und Regionen gewinnt das Thema Smart Cities weltweit und auch in der Schweiz an Bedeutung. Durch Digitalisierung, Vernetzung, Innovationsförderung und Mitwirkung von Bevölkerung und Unternehmen sollen Ressourcen geschont und eine hohe Lebensqualität für die Bewohnenden und Arbeitenden sichergestellt werden.

Soziale Arbeit

Partizipation in Städten und Gemeinden bietet Chanc---en, die Perspektiven und das Wissen unterschiedlicher Ziel- und Anspruchsgruppen einzubeziehen, und fördert damit eine nachhaltige Entwicklung.

Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen

Die Zukunft des Städtebaus liegt in der Landschaft. Eine hohe Lebensqualität im Siedlungsraum kann langfristig nur gesichert werden durch eine Stärkung des Stadtraums Landschaft.

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