«Wir können gemeinsam am aktuellen Tun lernen»

19.03.2019
1/2019

Was bewegt Jugendliche zu Schülerdemos? Was trägt Soziale Arbeit zur Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bei? Ein Interview mit Ursula Blosser, Direktorin des ZHAW-Departements Soziale Arbeit.

Frau Blosser, Jugendliche sind apolitisch, engagieren sich für nichts, hiess es lange Zeit. Und jetzt diese grossen Schülerdemos angesichts des Klimawandels und Ressourcenverbrauchs. Wie kommt das? Ursula Blosser: Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Grundsätzlich leben Jugendliche auch heute in sehr unterschiedlichen Verhältnissen. Vor allem jene aus der Mittel- und Oberschicht haben oft grosse Chancen, gefördert und unterstützt zu werden. Gleichzeitig sehen sie in ihrem Umfeld, dass Lebensläufe, Arbeitskarrieren und -situationen unsicher und brüchig sein können. Das Vertrauen in traditionelles politisches Handeln ist eher einer Skepsis gewichen, ob es den Exponentinnen und Exponenten wirklich um Lösungen für anstehende Probleme geht. Zudem möchte die jüngere Generation ihre Interessen in die von älteren Semestern dominierte Politik einbringen.

«Die jüngere Generation will ihre Interessen in die von älteren Semestern dominierte Politik einbringen.»

Böse Zungen behaupten, sie wollten nur die Schule schwänzen. Darauf würde ich nichts geben. Heutige Jugendliche sind sehr sensibel für das, was ihr Leben und ihre Zukunft positiv beeinflussen oder gefährden könnte. In den Diskussionen um Nachhaltigkeit kommt der Wille zum Ausdruck, persönliches Verhalten und gesellschaftliche Ziele ernsthaft aufeinander abzustimmen. Diese jungen Menschen haben den Mut, sich eine Stimme zu verschaffen und Verantwortung beziehungsweise konkretes Handeln einzufordern. Der Diskurs über den Klimawandel betrifft alle und bietet eine Chance, aus dem Alltag auszubrechen und ein Zeichen zu setzen in Bezug auf einen Ausgleich über Generationen und Ländergrenzen hinweg.

Sieht Solidarität heute anders aus? Ein Teil der Jugendlichen erfährt Solidarität und Unterstützung im engeren Umfeld. Sie haben oft ein Recht auf Wohlbefinden erfahren und verinnerlicht. Das möchten sie sich bewahren. Die Themen Nachhaltigkeit und Klimawandel zeigen Brüche in unserer Gesellschaft. Insofern ist das Bewahren unserer Natur ein Thema geworden, bei dem sich ganz viele Anliegen in die Waagschale werfen lassen.

«Neben dem Eingreifen bei bestehenden Schieflagen ist es aber ein Kerngeschäft der Sozialen Arbeit, Handlungsspielräume zu eröffnen und Ressourcen zugänglich zu machen.»

An welche denken Sie da? Wahrnehmen von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Fragen um Gewinnmaximierung oder -verteilung, Einsicht, dass es auch Verzicht braucht, oder kongruentes persönliches Verhalten. Es kann durchaus eine heutige Form der Solidarität sein, sich damit zu beschäftigen.

Der Umbau hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft ist eine der grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Wie nimmt die ZHAW Soziale Arbeit ihre Verantwortung wahr? Unsere Forschenden untersuchen Voraussetzungen, Wirkungen und Zusammenhänge des beruflichen Handelns im Sozialbereich. Sie fördern mit ihren Erkenntnissen, die sie mit Vertreterinnen und Vertretern aus Praxis und Politik oder unter Einbezug von Adressatinnen und Adressaten erörtern oder erarbeiten, soziale Nachhaltigkeit.

Was heisst das konkret? Wenn der Übergang aus der Kinder- und Jugendhilfe in das Erwachsenenalter erforscht wird, zeigt sich, was zum Gelingen beiträgt und welches mögliche Stolpersteine sind. Daraus lassen sich passende Anschlusslösungen ableiten. Auch bei der Diskussion um die Anwendung standardisierter Modelle im Kindesschutz können Erkenntnisse aus unserer Forschung nicht nur zur Versachlichung beitragen, sondern auch zeigen, wo diese Modelle positiv eingesetzt werden können und wo die Grenzen liegen. Nicht zuletzt zeigen Forschungsprojekte, wie die Zusammenarbeit mit Angehörigen Strafgefangener positive Auswirkungen auf die Resozialisierung hat.

Sind Sozialarbeitende mehr als die Reparateure in einer modernen Gesellschaft, die durch Egoismus geprägt ist? Es gibt in jeder Gesellschaftsform Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen schwertun oder die eher am Rande stehen. Dass sich ausgebildete Fachleute ihrer annehmen, ist für die aufgeklärte, kohäsive Gesellschaft notwendig. Neben dem Eingreifen bei bestehenden Schieflagen ist es aber ein Kerngeschäft der Sozialen Arbeit, Handlungsspielräume zu eröffnen und Ressourcen zugänglich zu machen – etwa im Sinne von Präventionsarbeit, wie sie gerade im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe geleistet wird.

Nicht immer wird Hilfe gutgeheissen. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden spüren heftigen Gegenwind. Natürlich gibt es in diesem Metier auch Gegenwind: Menschen, die in den KESB oder in der Sozialhilfe arbeiten und von politischen Exponentinnen und Exponenten oft bar von Faktenwissen und Respekt desavouiert werden, haben meine grosse Hochachtung. Sozial Arbeitende müssen die Situation, in der sie arbeiten, möglichst differenziert erfassen – und das ist schwer genug. Und manchmal braucht es auch die Fähigkeit, einstecken zu können oder auszuhalten, dass es nicht immer so geht, wie man es sich für Klientinnen und Klienten und die Gesellschaft wünscht.

«Die Beteiligung von Klienten macht die Soziale Arbeit verbindlicher und näher an der Realität der Klienten.»

Macht Klientenbeteiligung die Arbeit von Organisationen besser? Zu dieser Frage hatten wir im Departement kürzlich eine Abendveranstaltung mit interessierten Fachleuten. Da wurde deutlich: Die Beteiligung von Klientinnen und Klienten macht die Soziale Arbeit verbindlicher und näher an der Realität der Klientinnen und Klienten. Diese haben zum Beispiel im stationären Bereich eine hohe Bereitschaft, Konflikte untereinander auszutragen und das nicht den Sozialarbeitenden zu überlassen. Zum anderen macht Klientenbeteiligung Sozialarbeitende ehrlicher und zugänglicher für die eigene Verletzlichkeit.

Oft fehlt es im Sozialbereich an Ressourcen – finanzielle, personelle oder zeitliche. Was sind die Folgen? Wer Weiterentwicklung haben will, muss Mittel gezielt einsetzen. Mir scheint es wichtig, dass wir uns in der Sozialen Arbeit darüber im Klaren sind, nach welchen Werten wir handeln wollen. Das gilt natürlich auch für die ganze Gesellschaft. Wenn alles Medizinische dafür getan wird, dass Menschen sehr alt werden können, und dann stellt man ihnen im hohen Alter aber für Betreuung – etwa für langsames Essen und Waschen, Gespräche, Zuwendung – keine finanziellen Mittel zur Verfügung, ist das doch unverständlich. Ebenso, wenn man beispielsweise bei Jugendlichen wartet, bis eine gesetzliche Massnahme die Finanzierung regelt, statt dass man rechtzeitig auf freiwilliger Basis staatliche Unterstützung bietet. So etwas ist einerseits menschenunwürdig und kann andererseits schwerwiegende Konsequenzen sowie unerwünschte Folgekosten haben.

Was könnte erreicht werden, wenn man Ressourcen gezielt einsetzen könnte? Ressourcen kann und sollte man immer gezielt einsetzen. Wenn die Mittel knapp sind, erst recht. Soziale Arbeit tut gut daran, zu zeigen, wo sie ganz grundlegende Beiträge zu einer kohäsiven Gesellschaft leistet. Denn das ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Funktionieren unserer Wirtschaft – wie die Entwicklungen in anderen Ländern zeigen – sehr wichtig. Wir befassen uns im Departement darum mit Fragen zu Wirkung und Effektivität. Ihre Beantwortung setzt eine breite und ernsthafte Auseinandersetzung voraus, die Zeit benötigt. Da kann man nicht mal eben schnell an einer Schraube drehen und alles wird besser.

Im Herbst startet die ZHAW mit einem eigenen Masterstudiengang in Sozialer Arbeit. Weshalb? Die Verschränkung von Lehre, Forschung und Entwicklung sowie Praxis ist gerade auf der Masterstufe für Lehrende und Studierende zentral. Dies zu realisieren, gelingt am besten mit Themen, zu denen wir selbst vielfältig forschen. So können wir zusammen mit Studierenden und Praxisorganisationen Entwicklungen verfolgen und Lösungen erarbeiten. Und wir können flexibler auf aktuelle Themen eingehen und diese in die Ausbildung integrieren. Wir können also gemeinsam auch mit anderen Departementen an der ZHAW am aktuellen Tun lernen, und das ist der Kern einer anwendungsorientierten Fachhochschule.

«Übergänge im Lebenslauf sind grundsätzlich Momente, die immer mit Chancen und Risiken behaftet sind.»

Weshalb wurde der Fokus «Transitionen und Interventionen» gewählt? Mit Transitionen meinen wir alles, was gesellschaftlicher Wandel mit sich bringt: Veränderungen in Institutionen, beruflich-fachliche Entwicklungen sowie Übergänge in der Biografie zum Beispiel vom Jugend- ins Erwachsenenalter, vom eigenen Zuhause in eine Einrichtung für Betagte. Übergänge im Lebenslauf sind grundsätzlich Momente, die immer mit Chancen und Risiken behaftet sind. Es lohnt sich, diese Momente zu verstehen und da gezielt wirksam zu werden. Dies gilt auch für gesellschaftliche Veränderungen und Wandlungsprozesse: Soziale Arbeit stellt sich die Frage, wo sie wie mit welchen Massnahmen rechtlicher, ökonomischer, sozialer oder pädagogischer Art intervenieren soll und wo nicht.

Sie sind schon sehr lange in der Sozialen Arbeit aktiv. Wie hat sich die Profession verändert? Die Aufnahme der Sozialen Arbeit in die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften im Mai 2013 ist ein Erfolg in der über hundertjährigen Geschichte der Verfachlichung sozialer Themen in der Schweiz. Forschung in unterschiedlichen Themenbereichen der Sozialen Arbeit wird in hohem Mass von Fachhochschulen geleistet. Sie hat zum Verständnis und zur Bearbeitung von sozialpolitischen und gesellschaftlichen Fragestellungen wie auch zum vertieften Verständnis über Wirkungen von Interventionen und damit auch zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit beigetragen. Soziale Arbeit begründet ihre Arbeit vermehrt fachlich, theoretisch und methodisch. Damit verschränkt sich die Professions- mit der Disziplinentwicklung, und das bringt auch die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit weiter.

Sie gehen im Mai in Pension. Worauf sind Sie stolz hinsichtlich der Entwicklungen am Departement? Wir haben am Departement gezielt Forschung gefördert, dies auf der Basis einer geschärften inhaltlichen Strategie. In der Folge haben wir das Departement organisatorisch umgestellt und Zentren und Institute gebildet. Damit haben wir die fachliche Profilierung, die Verbindung von Lehre und Forschung und die Zusammenarbeit mit der Praxis auf ein breites fachliches Fundament gestellt. Dass wir ab Herbst eine eigene Masterstufe anbieten, unterstützt eine anwendungsorientierte und wissensbasierte Ausbildung, und das ist ja ein zentraler Auftrag von Fachhochschulen. Damit haben wir eine gute Basis geschaffen, um die Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit weiterzuentwickeln – auch in der Zusammenarbeit mit anderen Expertinnen und Experten der Sozialen Arbeit und mit anderen Disziplinen.

Wie aktivieren Sie Ihre eigenen Ressourcen jetzt neu? Ich hatte das Glück, dass mir mein Berufsleben viele Gestaltungsmöglichkeiten bot. Und die habe ich auch genutzt – immer zusammen mit vielen anderen Menschen. Einen Berufsweg geht man ja nie allein. Insofern bin ich sehr zufrieden. Während dieser Zeit wusste ich immer, was wann wieder auf der Agenda stand, und kaum war die eine Herausforderung vorbei, kam wieder eine neue. Nun lasse ich mich auf das Experiment ein, zu sehen, was ist, wenn das wegfällt. Ich freue mich darauf, den vielen schönen und bereichernden Erfahrungen und Momenten, die das Leben sonst noch mit sich bringt, mehr Raum geben zu können. Ich glaube, ich habe einen offenen Zugang zu meinen Ressourcen und eine gewisse Resilienz – und die werden ja nicht pensioniert ...


Zur Person

Ursula Blosser ist seit knapp zwölf Jahren Direktorin des ZHAW-Departements Soziale Arbeit und stellvertretende Rektorin. Viele Jahre war sie Ressortleiterin «Internationales» der gesamten ZHAW. Bevor sie an die Hochschule wechselte, agierte sie u.a. als Rektorin der Hochschule für Soziale Arbeit und als Leiterin des Amts für Soziales des Kantons St. Gallen. In den 90er Jahren führte sie eine eigene Unternehmens- und Organisationsberatungsfirma mit Schwerpunkten im Sozial-, Bildungs- und Umweltbereich. Ihre Dissertation widmete die Historikerin dem Thema «Töchter der Guten Gesellschaft. Frauenrolle und Mädchenerziehung im schweizerischen Grossbürgertum um 1900». Im Mai geht Ursula Blosser in Pension.

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