Wir sind keine Koalas, die nur von Eukalyptus leben, wir müssen essen lernen
Wissen Sie, welche Lebensmittel für Sie gesund sind oder wie Sie diese Lebensmittel zubereiten, woher Ihre Lebensmittel stammen und welche Zusammensetzung diese haben? Wie entscheiden Sie, welche Lebensmittel Sie kaufen? – Zehn gute Gründe für mehr Nutrition Literacy.
Statistisch betrachtet verspeist jede Schweizerin und jeder Schweizer durchschnittlich pro Jahr rund 1,5 Tonnen an Lebensmitteln und Getränken, die unser Körper verstoffwechselt. Immerhin sind das dann annähernd 50 Tonnen feste und 50 Tonnen flüssige Nahrung, die sich ein Mensch bis zum 85. Lebensjahr einverleibt hat. Das ist alles andere als banal; sollte man meinen.
Im Alltag benötigen wir Wissen, Erfahrungen, praktische Kompetenzen, um Essen auszuwählen und zuzubereiten sowie anschliessend mögliche Reste einer Weiterverwertung zuzuführen. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden solche Kompetenzen vorwiegend in der Familie erlernt. Durch die veränderten gesellschaftlichen Entwicklungen sind weder Ernährungskompetenzen noch deren Weitergabe heute in Familien selbstverständlich. So wird zunehmend den Schulen die Vermittlung von sogenannter «Nutrition Literacy», also von praktischen und theoretischen Ernährungskompetenzen, zugeschrieben. Doch was passiert, wenn auch in Schulen immer weniger praktisches und theoretisches Wissen über Essen und Lebensmittel gelehrt werden?
Essen ist zentral, nicht nur für unser individuelles Überleben, sondern Essen ist mit allen gesellschaftlichen Bereichen verwoben. Es ist das «Food Environment», welches unseren Umgang mit Essen prägt. Doch sowohl wir als Menschen, unsere physiologischen Bedürfnisse wie auch die Umgebung, in der wir leben, verändern sich, damit auch, was und wie viel wir essen. Nutrition Literacy ist damit nicht «fix», sondern muss stetig erweitert werden, Lifelong Learning also.
Zehn gute Gründe
Anhand von zehn Gründen (es gibt noch viele mehr) soll aufgezeigt werden, warum es heute praktische und theoretische Kenntnisse zu den Themen Essen und Ernährung, also Nutrition Literacy, braucht und wie dadurch mehr Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit und mehr Einfluss auf das Food Environment in einer immer komplexeren Welt genommen werden kann.
1. Essen und Gesundheit
Schon Hippokrates sagte: «Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel sein und eure Heilmittel sollen eure Nahrungsmittel sein.» Essen hat unmittelbaren Einfluss auf unsere Gesundheit. Weder zu viel noch zu wenig Essen tut uns gut. Doch wir müssen erst lernen, was gesund oder ungesund ist, wir haben keine Instinkte wie Koalas.
2. Qualität und Inhaltsstoffe
Wie werden Lebensmittel angebaut, zubereitet, richtig bevorratet? Das Wissen und die praktischen Kenntnisse sind entscheidend für die Qualität und die Inhaltsstoffe der Lebensmittel. Die Auswahl ist heute unüberschaubar, wir müssen lernen zu unterscheiden.
3. Zubereitung und Geschmack
Wie können durch Prozesse wie z.B. Kochen, Rösten, Fermentieren, Backen, Braten etc. Lebensmittel verfeinert werden und im Geschmack variieren oder besser haltbar gemacht werden? Dazu braucht es Wissen und Erfahrungen.
4. Einfluss auf die Umwelt
Unsere Ernährung nimmt unmittelbaren Einfluss auf unsere Umwelt. Der im Jahr 2019 veröffentlichte EAT Lancet Report formulierte sehr prägnant, wie Essen beides ist, Grundlage und Bedrohung für unser Überleben als Menschheit. Doch dazu müssen wir diese Zusammenhänge auch verstehen können.
5. Ressourcenverbrauch
Lebensmittel haben unterschiedlichen Ressourcenverbrauch (z.B. Boden, Energie, Wasser, Stickstoff) und damit Auswirkungen auf die Verfügbarkeit endlicher Ressourcen. Es benötigt praktisches und theoretisches Wissen, diejenigen Lebensmittel zu wählen und zuzubereiten, die die Ressourcen schonen.
6. Einfluss auf die Lebensbedingungen der Produzierenden
Durch unsere (Aus-)Wahl an Lebensmitteln nehmen wir Einfluss auf die Lebensbedingungen der Produzierenden, beispielsweise durch faire Preise. Hierzu ist es wichtig, auch zu verstehen, woher Lebensmittel kommen und wie deren Herstellungsbedingungen sind.
7. Foodwaste und die Arbeit der Menschen
Die Verschwendung von Lebensmitteln vergeudet nicht nur wertvolle Ressourcen, sondern missachtet auch die Arbeit von vielen Menschen, die die Lebensmittel anbauen, verarbeiten, transportieren und verkaufen.
8. Kulturelle Tradition
Lebensmittel und deren Herstellungen, Zubereitungen sind Ausdruck von kulturellen Traditionen und Praktiken, die erlernt werden müssen. Brot backen ebenso wie beispielsweise die Herstellung von fermentiertem Gemüse. Dazu braucht es die Weitergabe von praktischen und theoretischen Kenntnissen.
9. Wertschätzung
Essen hat immer mit einer Haltung der Wertschätzung und des Respekts zu tun (oder deren Mangel, wenn wir Lebensmittel verschwenden). Mehr Wertschätzung entsteht z.B. auch durch mehr Wissen und Kenntnisse über Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln. Wertschätzung muss vermittelt werden.
10. Gemeinschaft und Integration
Das gemeinsame Essen ist zentral für unser psychisches und soziales Wohlergehen, auch hier benötigen wir Wissen und Kenntnisse, z.B. wie Menschen in unterschiedlichen Kulturen das gemeinsame Essen gestalten, was sie essen und wie wir andere durch und mit Essen integrieren können.
Die Liste an Gründen für die Vermittlung von Nutrition Literacy ist hier bei Weitem nicht erschöpfend, es lassen sich noch mannigfaltige Beispiele finden. Alle weisen jedoch in die gleiche Richtung: Es braucht mehr praktische und theoretische Kompetenzen im Bereich Ernährung! Offen hingegen ist nach wie vor: Wo wird Nutrition Literacy nach der Schulzeit vermittelt? An welcher Stelle könnte die ZHAW hier einen Beitrag leisten? Wäre es nicht denkbar, in Kursen, die offen sind für Studierende und Mitarbeitende, Nutrition Literacy zu vermitteln? Eine Vision, zugegebenermassen, aber es kann ja auch ein Anstoss und Ansporn sein, hier gesellschaftlich relevante Aufgaben zu übernehmen. Ich jedenfalls wäre gerne dabei, und Sie?
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