Wird unsere Gesellschaft immer radikaler?

11.03.2020
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Extremistische Radikalisierung vollzieht sich immer mehr unter dem Einfluss des Internets, weiss Dirk Baier, Soziologe und Kriminologe an der ZHAW. Es brauche Prävention direkt im Netz. Der Experte warnt zugleich vor Alarmismus. Die Gesellschaft radikalisiere sich nicht generell. Vorabdruck aus dem Schwerpunktthema «Radikal» der März-Ausgabe des Hochschulmagazins ZHAW-Impact, das ab dem 18. März erscheint.

Vorfälle mit Linksautonomen an Demos. Strassenblockaden von Klimaaktivisten. Treffen von Rechtsextremen. Jihad-Reisende. Christliche Fundis. Gewalt von Hooligans. Angriffe auf Blaulichtorganisationen. Hass im Internet. Und politische Polarisierung. Alle diese Phänomene gibt es auch in der Schweiz. So verschieden sie sind, könnten sie doch eines gemeinsam haben: die Tendenz zur Radikalisierung. Stimmt der Eindruck? Radikalisiert sich unsere Gesellschaft? «Mit einer solchen Diagnose bin ich höchst vorsichtig», antwortet Dirk Baier. Der Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der ZHAW sitzt am Bürotisch, vor sich den Laptop und wissenschaftliche Studien mit gesicherten Erkenntnissen.

«Unsere Ansprüche an korrektes Verhalten haben sich erhöht: Deshalb reagieren wir sensibler, wenn jemand das friedliche Zusammenleben stört.»

«Man kann nicht pauschal sagen, dass sich die Gesellschaft radikalisiert», stellt er dann fest. Auch bei der Kriminalität hätten viele den Eindruck, sie nehme zu. Das belege die Statistik aber keineswegs. Die Jugendgewalt etwa sei zurückgegangen. Wenn schon, trifft laut Baier der gegenteilige Befund zu. Über einen längeren Zeitraum gesehen, sei die Welt friedlicher geworden, die Gesellschaft zivilisierter. Aggressionen und Gewalt würden stärker kontrolliert. Dass Radikalität auffällt, kann für den Forscher ein Ausdruck zivilisatorischen Fortschritts sein. Unsere Ansprüche an korrektes Verhalten hätten sich erhöht: «Deshalb reagieren wir sensibler, wenn jemand das friedliche Zusammenleben stört.»

«Alles, was irgendwo passiert, ist ganz schnell ganz nah bei uns.»

Schweizer System «befriedet»

Noch vor zwanzig Jahren, sagt Baier, wäre es beispielsweise kaum einem Polizisten in den Sinn gekommen, von Jugendlichen im Ausgang Respekt einzufordern. Heute werde deren Verhalten viel schneller als respektlos eingestuft. In der Schweiz wirke zudem das politische System «befriedend». In der direkten Demokratie kann man seine Anliegen einbringen und allfälligen Unmut an der Urne kundtun. Der aus Sachsen (D) stammende Baier sieht hier einen wichtigen Unterschied zu Deutschland, wo dies weniger möglich sei und sich deshalb mittlerweile verschiedene politische Milieus feindlich gegenüberstünden.

Dass trotzdem auch in der Schweiz viele das Gefühl hätten, Entwicklungen liefen aus dem Ruder, hat laut Baier mit der Mediengesellschaft zu tun: «Alles, was irgendwo passiert, ist ganz schnell ganz nah bei uns.» Aus weit entfernten Ereignissen würden persönliche Probleme. Und der Eindruck wachse, da müsse man doch etwas dagegen unternehmen. Baier nennt das Beispiel des islamistischen Terrors. Obwohl es in der Schweiz – «Holz anrühren!» – nie zu einem Anschlag kam, gaben in einer Umfrage acht von zehn Personen an, sich stark davor zu ängstigen: «Dabei war die Sicherheit objektiv stets gegeben.»

Radikal? Oder extremistisch?

Der Forscher mahnt zur Differenzierung. Für ihn fängt das schon bei den Begriffen an: «Radikal heisst noch nicht extremistisch.» Historisch gesehen brauche es manchmal Radikalität: «Die 68er hatten radikale Gedanken und machten unsere Gesellschaft offener.» Radikalität werde erst in Verbindung mit bestimmten Methoden zum Problem. Dann spreche die Wissenschaft nicht mehr nur von radikal, sondern von extremistisch. Baier hat dies bei 17- und 18-jährigen Jugendlichen in der Schweiz untersucht. Er fand eine gewisse Zustimmung zu radikalen bis extremen Positionen links und rechts.

Ja-Raten zu Gewalt waren niedriger

Dabei kamen Sympathien für linksradikale, antikapitalistische, anarchistische Ideen häufiger vor als solche für rechte, fremdenfeindliche, autoritäre Haltungen. Muslimische Jugendliche äusserten überdies breite Zustimmung zu antiwestlichen Einstellungen. Als die Jugendlichen allerdings gefragt wurden, ob sie bereit wären, zur Durchsetzung der Ideologien Gewalt anzuwenden, sanken die Ja-Raten bei allen sehr stark. Bei den muslimischen Jugendlichen lag die Zustimmung zu islamistischem Extremismus letztlich unter drei Prozent. «Doch dieses Ergebnis der Studie interessierte die Öffentlichkeit dann deutlich weniger», so Baier trocken.

Austoben im Netz

Eine Entwicklung bereitet auch dem nüchtern analysierenden Forscher Sorgen: die Schattenseiten des Internets und der neuen sozialen Medien: «Dadurch gibt es seit etwa zehn Jahren massiv erweiterte Möglichkeiten, sich auszutoben.» Noch fehle es an verbindlichen Spielregeln und Umgangsformen für die digitalen Plattformen, so Baier. Negative Folgen lassen sich zum Teil empirisch nachweisen. Cybermobbing, also Bedrohungen und Beschimpfungen im Internet, hat bei Schweizer Jugendlichen leicht zugenommen. Auch extremistische Radikalisierung vollzieht sich mehr und mehr unter dem Einfluss des Internets. Jugendliche sind dafür besonders empfänglich. Baier fand heraus: «Der häufige Konsum extremistischer Medien hat bei ihnen den stärksten Einfluss auf extremistische Radikalisierung.»

Aufmerksamkeit erhält, wer extrem ist

Nebst den Inhalten spielen Social-Media-typische Mechanismen eine Rolle. Aufmerksamkeit erhält, wer laut und extrem ist, wer starke Thesen postet. Auch Feindbilder ziehen immer im Netz. Baier verweist auf das Beispiel von US-Präsident Trump, der vormache, wie sich die virtuelle Aufmerksamkeitslogik nutzen lässt. Nicht einmal vor Desinformation scheue dieser zurück. Verheerenderweise wüssten auch Terrororganisationen wie der «Islamische Staat» ihre gewaltverherrlichenden Botschaften professionell audiovisuell zu verpacken: «Sie sprechen vor allem junge Männer an», sagt der Forscher.

«Gegennarrative» auf Youtube & Co.

Damit radikale Ansichten von Jugendlichen nicht in Gewalt umschlagen, sollte Prävention laut Baier im Internet ansetzen. Er begleitete vier Online-Pilotprojekte in der Schweiz, die den Extremismus mit positiven Inhalten und erhärteten Fakten zu bekämpfen versuchen. Die Videoclips und Blogbeiträge wurden von Jugendlichen mitproduziert, ansprechend gestaltet und auf sozialen Netzwerken wie Youtube, Instagram und Facebook geteilt. Sie wenden sich gegen Gewalt, Rassismus, Verschwörungstheorien und werben für Toleranz und Demokratie. Das Projekt «SwissMuslimStories» etwa porträtiert zehn gut integrierte junge Muslime.

«Wir sollten dem Müll im Netz mehr Gutes entgegensetzen.»

Auch wenn die Resonanz noch gesteigert werden könnte, sind solche Initiativen für Baier ein vielversprechender Anfang. Bisher dominiere der Müll im Netz, «wir sollten ihm mehr Gutes entgegensetzen.» Was Baier damit meint: sachliche Informationen, positive Botschaften, das reale Leben. Das Internet brauche mehr «Gegennarrative» zu Extremismus, Fake-News und Hate-Speech, sagt er. Auch die Jugendarbeit werde sich in Zukunft wohl vermehrt digital betätigen. Der Forscher kennt Beispiele aufsuchender Jugendarbeit im Netz, bei der Sozialarbeitende Jugendliche, die sich extremistisch äussern, online ins Gespräch ziehen.

Klimajugend anhören

Youtube-Filmchen allein genügen aber nicht, um extremistischer Radikalisierung vorzubeugen. Sie sind für Baier nur Bausteine einer grösseren Strategie, die auch die gesellschaftlichen Ursachen angehe. Nicht zuletzt appelliert der Forscher an die Verantwortung der Erwachsenen zum konstruktiven Diskurs. Erwachsene seien selber zwar weniger anfällig für extremistische Radikalisierung: «In der Regel haben sie mehr zu verlieren als die Jungen, deshalb gehen sie nicht hin und zünden etwas an.» Erwachsene mit radikalen Einstellungen – «zum Teil noch radikaler als bei den Jungen» – könnten jedoch ein Meinungsklima erzeugen, das Jugendliche zur extremistischen Aktion ermutige. Das betreffe Eltern genauso wie Politikerinnen und Politiker.

Appell an Lokalpolitiker

Ganz aktuell rät der Experte zum «klugen Umgang» mit den Jugendlichen, die seit mehr als einem Jahr für Massnahmen gegen die Klimaerwärmung demonstrieren. Wenn die Politik deren Ziele und Ideen jetzt nicht höre und zu kanalisieren versuche, «werden sich einige von ihnen radikalisieren», warnt Baier. Denn fehlende echte Partizipation sei erwiesenermassen ein Risikofaktor dafür. In einer Allianz mit linksextremen Strukturen könnte dann auch Gewalt zum Thema werden. «Warum nicht Jugendliche aus der Gemeinde einladen, einen Zehn-Punkte-Plan zu formulieren, und die Anliegen dann mit ihnen diskutieren?», schlägt Baier den Lokalpolitikern im Land vor. Demokratie live: beste Extremismusprävention für junge Leute.

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