Zehntausende von Bundesgerichtsurteilen analysiert
Die Digitalisierung verändert die Sprache des Rechts erheblich, wie moderne linguistische Analysemethoden nachweisen. Das gefährde die einzelfallgerechte Rechtsprechung, warnt ZHAW-Professor Andreas Abegg.
Der Umfang des Ausgangsmaterials ist immens: 23‘489 Bundesgerichtsentscheide seit 1875 und alle 10‘112 Botschaften des Bundesrats aus dem Bundesblatt. Zusammen ergibt das über 113 Millionen Wörter, die als «Korpus Schweizer Recht» an der ZHAW in einer Datenbank für Analysen zur Verfügung stehen. Ein Teil der Originaldokumente lag nur auf Papier vor, darunter Drucke in altertümlicher Frakturschrift. Sie mussten eingescannt und wo nötig von Hand nachbearbeitet werden.
Seit 150 Jahren durchgängig
Diese Texte sind für das Schweizer Recht aussagekräftig, weil sie die Gesetzgebung und die Rechtsprechung auf der obersten Ebene abbilden und seit 150 Jahren durchgängig vorliegen. «Eine solche Konsistenz in der gleichen Textsorte und im gleichen politischen System ist einzigartig», sagt Professor Andreas Abegg, Leiter des Zentrums für Öffentliches Wirtschaftsrecht an der ZHAW. Sein Interesse am Datenberg mit den 113 Millionen Wörtern erklärt der Jurist mit dem Stellenwert, den er der Rechtsgeschichte beimisst: «Wir verstehen unsere aktuelle Situation besser, wenn wir die historischen Prägungen und Entwicklungen verstehen.»
Mit Korpuslinguistik
Das notwendige Werkzeug für die Analysen brachte Bojan Peric ein, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Öffentliches Wirtschaftsrecht. Peric ist Germanist und hat sich auf die sprachwissenschaftliche Methode der Korpuslinguistik spezialisiert, die Mitte der 1990er Jahre entstanden ist. Sie untersucht zum Beispiel grammatikalische Konstruktionen, das Aufkommen populärer Begriffe oder den Kontext von Wörtern. Dank der heute verfügbaren hohen Rechenleistung lassen sich umfangreiche Datensammlungen wie das Korpus Schweizer Recht damit auswerten. Die Methode sei in Entwicklung, sagt Peric, fixfertige, computergestützte Interpretationen dürfe man nicht erwarten: «Doch die massgebenden Veränderungen lassen sich gut aufzeigen.» Mit Korpuslinguistik lasse sich Rechtsgeschichte als empirische Wissenschaft betreiben, sagt Abegg: «Bislang mussten oft zwei, drei Belege aus einem Archiv genügen, nun lässt sich eine These evidenzbasiert bestätigen oder falsizifieren.»
«Überspitzt gesagt wird logisches Denken zunehmend durch archivarisches Auffinden und Reproduzieren von bereits Bestehendem ersetzt.»
Konkret untersuchten Abegg und Peric, wie sich die Sprache des Rechts durch die Digitalisierung verändert hat. Es zeigte sich, dass die durchschnittliche Textlänge von lange etwa 3000 Wörtern auf weit über 6000 Wörter anstieg. Auch die Länge der einzelnen Sätze stieg an. Die Sprache wurde komplexer, der Anteil der Substantive wuchs, Einschübe unterbrechen häufiger den Lesefluss. Überraschend ist, dass diese Entwicklungen nicht erst in den 1990er Jahren einsetzten, sondern ein, zwei Jahrzehnte früher, also schon zu Beginn der Digitalisierung. Gehörten Bundesgericht und Bundeskanzlei also zu den Vorreitern, die früh Textverarbeitungssysteme und sogenannte «Schreibautomaten» nutzten? Peric bleibt wissenschaftlich präzis: «Wir können die sprachlichen Entwicklungen aufzeigen, zu den Ursachen sind uns qualifizierte Aussagen nicht möglich.»
Der Einsatz der Satzbausteine stieg
Spezielles Augenmerk richtete die Analyse zudem auf die juristische Argumentation. Zum Zuge kamen typische Sprachstrukturen wie «wenn/dann»-Konstruktionen und eine Vielzahl entsprechender sprachlicher Merkmale im semantischen Feld zu «Grund» und «Grundsatz». Da zeichnet sich ein bis heute anhaltender und immer stärker werdender Wandel ab, der ebenfalls schon in den 1970er und 1980er Jahren eingesetzt hat. Während argumentative Begründungen an Bedeutung verlieren, werden Verweise auf Gesetzesartikel und -botschaften, auf andere Urteile oder die juristische Fachliteratur immer wichtiger. «Überspitzt gesagt wird logisches Denken zunehmend durch archivarisches Auffinden und Reproduzieren von bereits Bestehendem ersetzt», sagt Professor Abegg.
Parallel dazu stieg der Einsatz von Textbausteinen beim Bundesgericht. Dank dieser Copy/Paste-Technik kommen stets die genau gleichen Sätze zum Einsatz, wenn es um die Interpretation eines Gesetzes geht. Dadurch entstehe eine Detaillierung des Gesetzes, sagt Abegg, gewissermassen eine Art Verordnung, die das Bundesgericht selbst erlässt: «Problematisch daran ist, dass das Bundesgericht gar nicht zur Gesetzgebung legitimiert ist, es darf nur die Gesetzesnormen auf den konkreten Einzelfall anwenden.»
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