ZHAW-Lifelong-Learning-Strategie: Mehr als nur Weiterbildung

22.09.2020
3/2020

Wie bildet man Menschen für Jobs aus, die es heute noch nicht gibt? Elena Wilhelm, Leiterin Hochschulentwicklung, und Daniel Baumann, 
Co-Leiter ZHAW digital, über neue Bildungsinhalte und -formate.

Über die Wichtigkeit lebenslangen Lernens spricht man schon lange...

Elena Wilhelm: Das ist richtig. Der Club of Rome hat schon 1979 erkannt, dass es angesichts rapider Veränderungen und zunehmender Komplexität nicht sinnvoll ist, die Ausbildung auf die ersten 18 bis 20 Lebensjahre zu beschränken. Neu ist aber bei unserer Life­long-Learning-Strategie, dass sie 
Implikationen auf alle Bildungs­stufen und alle Bildungsformate der ZHAW hat. Wir verstehen 
lebenslanges Lernen nicht nur als Weiterbildung. Das ist im schweizerischen Kontext aussergewöhnlich, wenn nicht sogar einzigartig.

Weshalb kommt die Lifelong-Learning-Strategie gerade jetzt?

Daniel Baumann: Wir stehen zunehmend vor der Herausforderung, dass wir Leute ausbilden sollen für Stellenprofile oder sogar für Jobs, die es heute noch gar nicht gibt. Als Hochschule müssen wir uns überlegen, wie wir diese Aufgabe erfüllen können. Auch die Tatsache, dass viele Menschen ihren Job häufig wechseln oder mehrere Jobs gleichzeitig haben, erhöht ihren Bildungsbedarf. Diese Entwicklung wird sich noch verstärken. Im Gegensatz dazu ist das Bildungswesen noch ziemlich konservativ: standardisierte Curricula, klar interpretierbare Qualifikationsnachweise, messbare Kompetenzen. Das eine passt immer weniger zum anderen. Das könnte sich angesichts der momentanen Dynamik, die wir auch losgelöst von der Corona-Krise erleben, ändern: Durch die digitale Transformation wird vieles obsolet, gleichzeitig wird vieles andere durch sie überhaupt erst möglich.

Elena Wilhelm: Das war sicher ein wichtiger Motor für die Entwicklung der Lifelong-Learning-Strategie – zu schauen, welche Implikationen der rasche Wandel des Wissens auf Bildung und Lernen haben könnte und wie sich die ZHAW aufstellen muss. Neuartige Institutionen wie die CODE University in Berlin oder die Ecole 42 in Paris, für die keine Curricula existieren und in denen Studierende weitgehend selbstbestimmt und von den Dozierenden begleitet in Projekten lernen, findet man vor allem in der Informatik­ausbildung. Das ist kein Zufall. In diesem Fachgebiet hat Wissen eine besonders kurze Halbwertzeit.

Was ist das Ziel der Strategie?

Elena Wilhelm: Wir wollen einen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Kultur des lebenslangen Lernens leisten. Für die Studierenden wollen wir ein innovatives, vielfältiges und kreatives Lernumfeld bieten. Wichtig ist auch die intensivierte Vermittlung von Wissens- und Lernkompetenzen sowie von Unternehmenskompetenzen – also Entre- und Intrapreneurship – als Voraussetzung für das lebenslange Lernen. Die Studierenden sollen sich persönlich entfalten und die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft aktiv mitgestalten können. Unsere Angebote sollen sie dabei unterstützen, in einem national und international sehr kompetitiven Umfeld arbeitsmarktfähig zu bleiben. Mit der Strategie soll nicht zuletzt die Bildungschancengleichheit erhöht und die gesellschaftliche Inklusion gefördert werden.

Elena Wilhelm ist seit 2013 Leiterin der ZHAW-Abteilung Hochschulentwicklung. Sie ist federführend bei der Entwicklung der Hochschul­strategie und der Teilstrategien sowie bei der neuen Lifelong-Learning-Strategie. Bevor sie an die ZHAW wechselte, war sie in Leitungspositionen verschiedener Hochschulen tätig. Elena Wilhelm hat Sozialarbeit, Ethnologie, Journalistik und Kommunikationswissenschaft studiert und einen EMBA absolviert.

Weshalb ist lebenslanges 
Lernen ein wichtiges Thema für die ZHAW?

Daniel Baumann: Die ZHAW soll auch in fünf und in zehn Jahren noch eine zeitgemässe Hochschule sein. Wir befinden uns im Wettbewerb mit allen Schweizer Hochschulen. Wer die Nachfrage besser abdeckt, wird sich im Markt behaupten können. Eine Fachhochschule ohne Lifelong-Learning-Strategie hat das Profil, welches eine Fachhochschule auszeichnet, nämlich die Praxis­nähe und Anwendungsorientierung in Forschung und Bildung, meiner Meinung nach nicht ganz erreicht. Die Anwendungsorientierung und Praxisnähe sind die Stärken von Fachhochschulen im Vergleich zu universitären Hochschulen. Wir wollen Menschen in die Arbeitswelt entlassen, die dort gleich eingesetzt werden können. Also müssen wir eine Vorstellung davon haben, welches Wissen und welche Kompetenzen wir den Studierenden auf welche Weise am bes­ten vermitteln, sodass sie sich im Unternehmen weiterentwickeln und Verantwortung für Arbeitgeber und Gesellschaft übernehmen können. Und wir müssen uns überlegen, welche unserer Leistungen ihnen dann noch einen Mehrwert bieten können, wenn die Absolventinnen und Absolventen einmal im Arbeitsleben stehen.

Daniel Baumann ist seit 2019 Geschäftsführender Leiter der Strategischen Initiative ZHAW digital. Er arbeitete in der Begleitgruppe zur Entwicklung der Lifelong-Learning-Strategie mit. Der diplomierte Agronom (Fachgebiet Herbologie) war von 2010 bis 2019 stellvertretender Leiter des ZHAW-Departements Life Sciences und Facility Management. Daniel Baumann ist zertifzierter Wirtschaftsmediator (SGO).

Elena Wilhelm: Die ZHAW muss als Bildungs- und Forschungsinstitution sowohl den sich rasch ändernden Erfordernissen des Arbeitsmarktes als auch den individuellen Bildungsinteressen noch besser gerecht werden – immer unter der Voraussetzung der Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen Hochschulbildung. In der Lifelong-Learning-Strategie haben wir festgeschrieben, dass wir zu diesem Zweck die Synergien zwischen Forschung, Studium, Weiterbildung, Dienstleistung und Innovation stärken. Die Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen und den Partnern in Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne eines praxisbasierten und lebenslangen Lernens wird nochmals intensiviert.

Die ZHAW will Zugänge und Angebote den individuellen Bedürfnissen anpassen. Wie individuell können Bildungsangebote sein?

Daniel Baumann: ZHAW digital und die Hochschulentwicklung der ZHAW arbeiten an einem spezifischen Kompetenzentwicklungsmodell.

Wie darf man sich das vorstellen?

Daniel Baumann: Nehmen wir an, es kommt eine Person – nennen wir sie Anna M. – mit einem spezifischen Bildungs­ziel zu uns an die Hochschule. Vielleicht hat sie ein Zertifikat, aus dem wir ablesen können, was Anna M. kann. Oder sie hat einen informellen Bildungshintergrund, das heisst, dass sie ausserhalb von Bildungseinrichtungen Wissen und Kompetenzen erworben hat. Wenn wir festgestellt haben, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten Anna M. verfügt, könnten wir aus allen ZHAW-Angeboten – Präsenzkurse, Onlinekurse, Coaching oder On-the-Job-Training – ein individuelles Studienprogramm zusammenstellen, damit sie ihr Ziel erreicht. Denkbar wäre auch, dass wir ihr einen persönlichen Trainer an die Seite stellen, der sie durch ihr ganzes Studium begleitet. Und nicht nur das. Aus der Perspektive des lebenslangen Lernens würde Anna M. diesen persönlichen Trainer an unserer Hochschule immer wieder konsultieren, wenn sie sich weiterentwickeln möchte, sei es aufgrund veränderter Interessen oder weil sie Führungsaufgaben übernehmen will oder bei einem Stellenwechsel noch andere Kompetenzen braucht.

«Wir stellen ein individuelles Studienprogramm 
zusammen und sorgen dafür, dass die Kompetenzen am Ende nachweisbar sind.»

 

Daniel Baumann

Wie lässt sich solch ein Modell in einem so gefragten Ausbildungsbereich wie der School of Management and Law mit mehr als 5000 Studierenden realisieren?

Daniel Baumann: Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit der Studierenden an der School of Management and Law auch weiterhin zum Beispiel Betriebswirtschaftslehre im klassischen Sinn studieren wird. Es kann aber durchaus sein, dass Anna M. allenfalls aus der Chemie kommt und jetzt spezifisches betriebswirtschaftliches Know-how braucht, weil sie eine Führungsposition übernehmen soll. Wir würden dann ein massgeschneidertes Programm für sie zusammenstellen und dafür sorgen, dass sie am Ende ihre Kompetenzen nachweisen kann.

«Der Bereich 
Weiterbildung sollte noch stärker als bisher auf den spezifischen Kompetenzen der Teilnehmenden aufbauen.»

Elena Wilhelm

Elena Wilhelm: Für eine individuellere Begleitung durch das Studium sind verschiedene Massnahmen vorgesehen. Eine ist beispielsweise das 
Senior-Mentoring-Programm. Gestandene Berufsleute aus der Praxis, die sich mit der ZHAW identifizieren, erhalten eine Weiterbildung zur Mentorin oder zum Mentor und können Studierende und Weiterbildungsteilnehmende individueller begleiten, indem sie ihr Wissen und ihre Erfahrung weitergeben.

Vorgesehen sind auch Weiterbildungsangebote à la carte. Wie könnten diese aussehen?

Elena Wilhelm: Dieses Anliegen war mir bei der Entwicklung der Strategie sehr wichtig. Denn im Bereich der Weiterbildung sollte noch stärker als bisher auf den spezifischen Kompetenzen der Teilnehmenden aufgebaut werden, damit sie einen möglichst grossen Benefit haben. Ich habe zum Beispiel vor zwei Jahren an der Universität Zürich einen EMBA absolviert. Die Teilnehmenden hatten vollkommen unterschiedliche Vorbildungen. Einige besuchten dabei zum vierten Mal in ihrer Bildungslaufbahn ein Modul in Mikroökonomie, ich besuchte es zum ersten Mal. Eine gewisse Wahlfreiheit wäre diesbezüglich sehr sinnvoll.

Sind so individualisierte Bildungsabschlüsse noch vergleichbar?

Elena Wilhelm: Nein. Weiterbildungen à la carte sind eben individuell. Wichtig ist letztlich ja nur, dass das erworbene Wissen und die entwickelten Kompetenzen nachgewiesen werden können.

Daniel Baumann: Vielleicht ist die Vergleichbarkeit auch künftig nicht mehr so wichtig. Der Arbeitsmarkt sucht mehr und mehr die richtige Person für einen Job und keine Bildungsstandards. Google hat beispielsweise eine ganz spannende Rekrutierungsstrategie: Die holen sich gute Leute ins Unternehmen, ohne bereits an einen speziellen Job zu denken, schauen dann, was sie oder er kann, und wählen eine entsprechende Stelle aus.

Wie können Arbeitgeber­innen und Arbeitgeber künftig einschätzen, was ein Abschluss an der ZHAW bedeutet beziehungsweise was Absolventinnen und Absolventen können?

Elena Wilhelm: Es braucht ein elektronisches Kompetenzportfolio, das die Kompetenzen abbildet, die man erworben hat. In anderen Ländern wird hierfür etwa die Blockchain-Technologie eingesetzt. Statt Krypto­währungen dienen Kompetenzen als Währungen – wie eine Art Bildungskapital. Arbeitgeber machen auch zunehmend ihre eigenen Assessments.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung beim Lifelong Learning?

Daniel Baumann: Ohne die Möglichkeiten der Digitalisierung wären die Ziele der Lifelong-Learning-Strategie kaum erreichbar. Die Individualisierung wird durch sie erst möglich und kostengünstiger. Wir können nicht alle Fachgebiete in Eigenregie anbieten. Deshalb sind wir dabei, an der ZHAW einen digitalen Campus zusammen mit anderen Hochschulen aufzubauen. Wir sind die erste Fachhochschule überhaupt, die Partner der weltweiten Online-Bildungsplattform edX ist, die von der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology gegründet wurde. Damit können wir Anna M. einen geeigneten Online-Kurs bei der Harvard University empfehlen, deren Zertifikat sich in ihrer Bildungsbiografie gut machen würde.

Elena Wilhelm: Wir wollen noch viel gezielter die Vorteile des jeweiligen Formats nutzen. Reine Wissensvermittlung kann man online durchführen. Dadurch gewinnt man für eine individuellere Betreuung und individuelles Feedback mehr Zeit.

«Im Präsenzunterricht 
müssen wir Studierenden ein Erlebnis bieten. Sie sollen sagen können: Super, dass 
ich da gewesen bin.»

Daniel Baumann

Daniel Baumann: Das kann ich nur unterstreichen. Wir brauchen Vorstellungen davon, was wir den Studierenden qualitativ Gutes zu bieten haben, wenn sie den Aufwand betreiben, um zur Hochschule anzureisen: Wir müssen ihnen ein Erlebnis bieten, sei es im Labor oder in einer Lerngruppe. Sonst können sie nämlich auch zuhause lernen. Sie sollen am Ende des Tages sagen können: Super, dass ich da gewesen bin. Bei der Weiterbildung ist dies noch viel wichtiger.

Wo stehen wir heute bei der digitalen Transformation?

Elena Wilhelm: Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir viel stärker als bisher angenommen auch online miteinander lernen und kommunizieren können. Die Qualität dieses Lernens muss nun ausgewertet und darauf aufbauend müssen entsprechende Konzepte entwickelt und die notwendigen Infrastrukturen aufgebaut werden.

«Die bestehenden Bildungs- und Weiterbildungsformate bleiben zentral. Sie werden ergänzt durch neuartige 
Formate und Abschlüsse.»

Elena Wilhelm

Daniel Baumann: Mit den Mitteln der Zürcher Digitalisierungsinitiative wurden für die Zürcher Hochschulen sehr gute Rahmenbedingungen geschaffen, das heisst, wir sind da im Gesamtumfeld gut unterwegs, in einigen Themen sogar führend wie im Bereich der Open Education Ressources – also Bildungsmaterial, das für alle öffentlich zugänglich ist –, bei elektronischen Prüfungen oder eben dem 
«ZHAW digital campus».

Wenn die Strategie gelebt wird: Wie wird dann die ZHAW der 
Zukunft aussehen?

Elena Wilhelm: Die Strategie bewirkt eine Evolution und keine Revolution. Deshalb wird sich nicht alles ändern. Die bestehenden Bildungs- und Weiterbildungsformate bleiben die zentralen Angebote. Im Zuge des lebenslangen Lernens werden aber neuartige Formate und Abschlüsse eingeführt und erprobt werden.

Daniel Baumann: Wir werden auch dann noch eine Präsenzhochschule sein, ergänzt durch einen starken digitalen Campus – gut vernetzt mit dem Arbeitsmarkt für On-the-Job-Training. Studierende werden zu uns kommen, weil wir auf individuelle Bedürfnisse eingehen können und weil bei uns Studieren ein Erlebnis sein wird – etwas, das einen das Leben lang begleitet. Weil das so sein wird, kommen die Studierenden immer wieder, um sich weiterzubilden – lebenslang.

Das sind die wichtigsten neuen Massnahmen

Die Strategie bildet die Grundlage für das Lifelong- Learning-Programm der Hochschule. Sie hat vor allem zum Ziel, Wissens-, Lern- und Unternehmenskompetenzen zu fördern. Mit ihr wurde ein Paket von gegen 20 Massnahmen geschnürt. Einige gelten für alle Departemente. Andere finden zunächst als Pilot an einzelnen Departementen oder auch nur an einem Departement statt. Im Departement Life Sciences und Facility Management wird etwa ein offenes Curriculum für Masterstudierende in Preneurship for regenerative Agro Food Systems entwickelt. Andere Departemente denken über Senior-Mentoring-Programme nach, bei denen gestandene Berufsleute Studierende coachen. Um die Hochschule stärker für Gasthörerinnen und -hörer zu öffnen, soll zum Beispiel auch ein Gesamthochschulverzeichnis entstehen, aus dem Bildungsinteressierte auswählen können aus Veranstaltungen und Angeboten, die sich für diese Zielgruppe eignen. Die Inhalte in der grundständigen Lehre und in der Weiterbildung sollen enger aufeinander abgestimmt sein. Mehr massgeschneiderte Weiterbildungen für Unternehmen sind ebenso vorgesehen wie individuelle Weiterbildungsangebote à la carte. Neben den herkömmlichen Standard-Curricula sollen flexible (örtlich flexibel) und offene Curricula (inhaltlich flexibel) möglich sein. Die Durchlässigkeit des Bildungssystems soll gefördert werden durch individuelle Beratung, Anerkennung von früher Gelerntem oder die Zertifizierung von Kompetenzen.

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