COIL – Aus der eigenen Kultur virtuell ausbrechen

01.07.2020
2/2020

Mit Studierenden aus einer anderen Kultur etwas virtuell erarbeiten und gemeinsam vorankommen: Dies beinhaltet Collaborative Online International Learning. Im Lockdown zeigte sich, wie wichtig virtuelles Kollaborieren ist . Ein schweizerisch-chinesischer Erfahrungsbericht.

Einige Studierende seien sehr schüchtern, sagt Samantha Shi, die an der Tianjin Normal University (TJNU) in China unterrichtet. «Als wir hier während der Pandemie Online-Unterricht hatten, wollten sich einige nicht vor der Kamera zeigen.» Die Englisch-Dozentin war daher gespannt, ob sie sich in einer virtuellen Zusammenarbeit mit Studierenden der ZHAW aktiv einbringen würden. «Die meisten haben sonst keine Gelegenheit, mit Menschen aus einem anderen Land zu sprechen.» Ein COIL (Collaborative Online International Learning) macht genau dies möglich. «Es findet zwischen zwei oder mehreren Hochschulen statt», sagt Daniel von Felten, Koordinator für internationale Beziehungen am Institut für Facility Management (IFM). «Es wird von deren Dozierenden bezüglich Thema, Sprache, Didaktik und Leistungsnachweisen kollaborativ geplant.»

Aus dem soziokulturellen Kontext virtuell ausbrechen

Die Teilnehmenden gehen in hochschulgemischten Teams Problemstellungen an, sie müssen Konflikte meistern und gemeinsam Ziele erreichen. Sie erhalten dabei einen Einblick in eine andere Kultur. «Wir nehmen die Dinge immer aus unserem gewohnten soziokulturellen Kontext wahr und agieren entsprechend», sagt von Felten. «In einem COIL erlebt man, dass es viele kleinere und grössere Unterschiede gibt.» Mit verschiedenen «Realitäten» umgehen zu können, sei in der heutigen, global vernetzten Arbeitswelt eine gefragte Kompetenz.

Kennenlernvideos

Im März und April hat er zusammen mit Claudine Gaibrois von der Fachgruppe Kultur, Gesellschaft und Kommunikation eine Kollaboration mit der TJNU realisiert. Sie war in den Pflichtwahlkurs «Leben und Arbeiten in der multikulturellen Gesellschaft» eingebunden, der von Bachelorstudierenden unterschiedlicher Fachrichtungen am ZHAW-Departement Life Sciences und Facility Management besucht wurde. «Wir haben diskussionsbasierte Aufgaben gestellt», sagt Dozentin Claudine Gaibrois. «Die Teilnehmenden sollten sich offen begegnen und miteinander ins Gespräch kommen.» Ein erster Auftrag bestand darin, sich in einem Video vorzustellen.


Andere Dimensionen: Der Campus der Tianjin Normal University (TJNU) in China


Einige Gemeinsamkeiten entdeckt

Die 80 Teilnehmenden lernten sich virtuell kennen, sie tauschten sich über ihren Alltag, ländertypische Gepflogenheiten sowie Vorurteile aus. Auch die Corona-Situation war in einigen Gruppen Gesprächsstoff. «Das war gerade zu Beginn interessant, weil ein Lockdown in der Schweiz damals noch weit weg und überhaupt nicht sicher schien», berichtet Frederik Sommerhalder, der in Wädenswil Chemie studiert. Die Tianjin Normal University hatte den Präsenzunterricht bereits vor Kursbeginn ausgesetzt, die ZHAW folgte Mitte März. «Einige Gruppen haben über sehr private Dinge gesprochen», sagt Kursleiterin Gaibrois. Dabei hätten sie festgestellt, dass sich ihr Lebensstil gar nicht so stark unterscheide.

Alle Beteiligten sind gefordert

In einem COIL könne man sich – anders als in anderen Unterrichtsformen – nicht verstecken, sagt sie weiter. Dies sei eine grosse Chance. Die Teilnehmenden lernten durch eigene Erfahrungen. «Ich war überrascht, wie stark sie profitiert haben.» Samantha Shi zieht ebenfalls eine positive Bilanz: «Die Studierenden haben ihre Schüchternheit überwunden.» Sie hätten  vor allem ihr mündliches Englisch verbessert, viel über die Schweizer Kultur erfahren und verschiedene technische Hilfsmittel kennengelernt.

Förderung der «Global Citizenship»

Wirtschaft und Gesellschaft seien heute weltweit verflochten, betont Daniel von Felten. «Wir können unsere Probleme nur im Dialog mit allen Beteiligten lösen. Das zeigt die aktuelle Corona-Situation gerade deutlich.» Dafür biete das Unterrichtsformat eine ideale Trainingsmöglichkeit. Auch in kleinen Firmen träfen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander, ergänzt Claudine Gaibrois. Entsprechend wertvoll seien solche Praxiserfahrungen. Ein COIL leiste zudem einen wichtigen Beitrag zur Förderung der «Global Citizenship».

  «Es gibt immer einen Weg»

«Es war interessant, komplett andere Blickwinkel auf bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen kennenzulernen», sagt Chemiestudent Frederik Sommerhalder. Chinesen hätten beispielsweise eine kollektive Wahrnehmung von Besitz. «Das verdiente Geld gehört nicht einer Einzelperson, sondern der Familie.» Sie brächten viel Motivation für Schule und Arbeit auf, stellt Kübra Tezcan fest, die Umweltingenieurwesen studiert. Sie setzten sich teils stark unter Druck, um den eigenen und anderen Erwartungen zu entsprechen. «Sie sind ähnlich wie Schweizer und arbeiten viel.»

Sie habe gelernt, dass es immer einen Weg gebe, zusammenzuarbeiten, sagt Velia Roth, die den Studiengang Facility Management absolviert und bereits an einem COIL mit Mexiko teilgenommen hatte. «Es ist wichtig, dass man weiss, wie der andere Dinge erledigt. Dann kann man sich darauf einstellen.» Man müsse Stereotype ablegen und sich auf sein Gegenüber einlassen, sagt Ariane Vogelmann, Studentin Umweltingenieurwesen. «Nimmt man sich diese Zeit, entstehen gute, interessante Gespräche.» Es sei gar nicht so schwierig, in internationalen Teams zusammenzuarbeiten, wie man sich das vielleicht vorstelle. «Letztlich kommt es aber auf die Teammitglieder an, deren Nationalität und Kultur spielen meist eine untergeordnete Rolle.»

Zeitverschiebung und technische Probleme

Als Schwierigkeit erlebten die Schweizer Teilnehmenden die unterschiedlich guten Englischkenntnisse. Hinzu kamen unterschiedliche Zeitzonen sowie technische Probleme. Da die Teilnehmenden der TJNU zu vielen hierzulande gängigen Programmen keinen Zugang hatten, mussten andere Lösungen gefunden werden. Immer wieder erschwerten zudem schlechte Internetverbindungen den Austausch. Trotz dieser Hürden würden alle Befragten das COIL weiterempfehlen. «Es war eine sehr gute Erfahrung, die ich für meine berufliche und private Zukunft gebrauchen kann», sagt Jelena Ašanin, Studentin Facility Management.   

Offen für weitere Kollaborationen

Das IFM führt regelmässig Kollaborationen mit Hochschulen in Holland und Mexiko durch. Ein grösseres COIL ist mit Beteiligten aus den USA und Japan geplant. Daniel von Felten möchte das Gefäss weiter stärken. «In der Schweiz ist man sich des Mehrwerts von COIL noch zu wenig bewusst», sagt er. An einer Konferenz in Tacoma (USA) 2019 mit über 450 Teilnehmenden aus aller Welt war er der einzige Vertreter aus der Schweiz. In asiatischen Ländern und in der EU wird COIL hingegen strategisch gefördert und es werden Forschungsprogramme dazu durchgeführt. Ginge es nach von Felten, könnte das Lehr- und Lernformat auch an der ZHAW noch häufiger zum Zug kommen. Er verfüge über weitere interessante Kontakte zu ausländischen Hochschulen, sagt der COIL-Pionier. Eine Kollaboration lasse sich mit überschaubarem Aufwand realisieren. «Es reicht, wenn zwei Dozierende entscheiden, das machen wir.»

Online-Reise nach China und Vietnam

Im Bachelorstudiengang Betriebsökonomie an der ZHAW School of Management and Law haben Studierende eine virtuelle Reise nach China und Vietnam unternommen: Sie tauschten sich in Videocalls mit Managern von Firmen in Shanghai und Hongkong, mit dem China-Korrespondenten der «NZZ» sowie mit einer ehemaligen ZHAW-Studentin aus, die vor einigen Jahren eine reale Studienreise in die asiatischen Länder unternommen hatte. Als Leistungsnachweis erarbeiten die Studierenden zudem Videoblogs über die Geschäftssektoren Maschinenindustrie, Pharmaindustrie, Tourismus und Luxusuhren, die im wirtschaftlichen Austausch zwischen der Schweiz und China eine herausragende Rolle spielen. Die virtuelle Reise dient als Ersatz für die reguläre Studienreise im Rahmen des Wahlpflichtmoduls «Emerging Markets Fieldtrip», die normalerweise alljährlich Anfang Juli stattfindet. Sie kann 2020 aufgrund der Corona-Krise nicht stattfinden.

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