Forschen ohne Grenzen
Ob Messinstrument im Kreditkartenformat oder vertieftes Verständnis für das kindliche Spiel: Im Rahmen des EU-Förderprogramms Horizon 2020 arbeitet die ZHAW mit Forschungseinrichtungen sowie Unternehmen aus ganz Europa zusammen. Für das Folgeprogramm will sie das Engagement noch intensivieren.
Eine der Fähigkeiten von Amanda wird sein: den Kohlendioxidanteil in der Luft zu erheben. «Als wir Anfang 2019 mit der Entwicklung unseres Messinstruments begannen, dachten wir an Frühwarnung im Brandfall oder auch einfach an persönlichen Komfort», sagt Marcel Meli, Ingenieur am Institute of Embedded Systems der ZHAW. Dass die Luftqualität in Innenräumen uns bald alle täglich beschäftigen würde, konnte er damals nicht ahnen – die Corona-Krise lag noch in weiter Ferne. Das smarte Gerät soll aber dereinst nicht nur CO2-Konzentrationen erfassen, sondern auch Temperatur, Helligkeit oder Luftfeuchtigkeit – und das alles mit kleinsten Sensoren. «Amanda braucht nicht mehr Platz im Portemonnaie als eine Kreditkarte», so Meli.
Die ZHAW forscht vernetzt an Amanda. An ihrer Entwicklung sind auch Forschungszentren und Privatunternehmen aus Grossbritannien und Belgien, aus Kroatien und den Niederlanden beteiligt, die Gesamtkoordination obliegt einem griechischen Forschungszentrum. Das Projekt entsteht im Rahmen des europäischen Förderprogramms Horizon 2020 und wird von der EU mit knapp 4 Millionen Euro finanziert, davon gehen 640’000 Euro an die ZHAW. Meli und sein Team sind dabei an der Optimierung der Energienutzung und der Entwicklung der drahtlosen Kommunikationssysteme beteiligt. Denn Amanda will Umgebungsbedingungen nicht nur erfassen, sondern auch anpassen, also etwa das Licht anmachen oder die Heizung ausschalten – und versorgt sich dafür mittels Solarzellen autonom mit der notwendigen Energie.
Vergleichbar mit Engagement einer kleineren Schweizer Universität
Horizon 2020 ist bereits das dritte europäische Forschungsrahmenprogramm, an dem die ZHAW teilnimmt – und das erfolgreichste bisher. An mehr als 40 Projekten ist die Fachhochschule derzeit beteiligt. «Dieses Engagement ist vergleichbar mit dem einer kleineren Schweizer Universität», sagt Patrik Ettinger, der an der ZHAW für die Beratung der Forschenden zu europäischen Forschungsförderinstrumenten zuständig ist.
Gut vernetzt ist halb gewonnen
Der Weg dorthin verlief nicht einfach geradeaus. «In den Anfängen war die europäische Forschung an der ZHAW stark von einzelnen Personen geprägt», sagt Ettinger, Mitarbeiter der Stabsstelle Forschung und Entwicklung (F&E) der ZHAW. Hätten diese dann irgendwann die Fachhochschule verlassen, hätten sie meist nicht nur das laufende Projekt mitgenommen, sondern auch ihr Netzwerk und die Aussicht auf weitere Forschungsvorhaben. Gerade eine gute Vernetzung ist jedoch zentral für die Fachhochschule. «Die ZHAW tritt normalerweise nicht als Projektkoordinatorin auf, sondern wird von anderen für Kollaborationen angefragt.»
Eine Lanze brechen für das Spiel von Kindern
Wie spielen Kinder im öffentlichen Raum? Wie müssen Messinstrumente beschaffen sein, um die Qualität des Spielens länderübergreifend zu erfassen und daraus Empfehlungen für die Gestaltung von Spielräumen abzuleiten? Diese Fragen stehen im Zentrum einer von zwei Dissertationen, die als Teil des transeuropäischen P4PLAY-Programms am Institut für Ergotherapie der ZHAW bearbeitet werden. Im Rahmen dieser Marie Sklodowska-Curie Action der EU hat die ZHAW-Professorin Christina Schulze gemeinsam mit Partnerinnen und Partnern an Universitäten in Irland, Schottland und Schweden acht Doktoratsstellen für Nachwuchsforschende geschaffen. All deren Projekte widmen sich der Untersuchung und Förderung des kindlichen Spiels. Dieses komme im Alltag häufig zu kurz, zum Beispiel, weil geeignete Plätze fehlten, nicht genutzt würden oder nicht zugänglich seien, sagt Schulze. Das gelte ganz besonders für Kinder, die gegenüber anderen benachteiligt würden, sei es aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder körperlicher oder psychischer Beeinträchtigungen. «Dabei ist Spielen die wichtigste Beschäftigung für Kinder überhaupt.»
Unterschiedlich viel Forschungserfahrung
Auch die Heterogenität der Fachhochschule spielt eine Rolle. Ganz verschiedene Fachbereiche sind unter einem Dach vereint. Die Departemente bringen auch unterschiedlich viel Forschungserfahrung mit. So kann etwa die School of Engineering als einstiges Technikum Winterthur auf eine lange Tradition in dieser Hinsicht zurückblicken; sie verfügt nicht nur über ein grosses Netzwerk, sondern auch über die notwendigen internen Strukturen. Für andere Departemente ist die EU-Forschung noch Neuland. Das liege auch daran, dass nicht jedes Thema gleich anschlussfähig sei, gibt Ettinger zu bedenken. «Für die Entwicklung einer Batterie spielen kulturelle Differenzen eine weit geringere Rolle, als wenn es darum geht, die Unterstützung von armutsbetroffenen Familien zu erforschen.»
«Die transnationale Forschung muss noch viel breiter auf die verschiedenen Departemente und Institute verteilt werden.»»
Das grosse Plus der ZHAW: «Wir sind es gewohnt, nicht nur mit anderen Hochschulen, sondern auch mit Privatunternehmen, NGOs oder öffentlichen Ämtern zusammenzuarbeiten», sagt Ettinger. Die starke Anwendungsorientierung, die regionale Verankerung und die Kooperation mit Industriepartnern sind ein Vorteil der Fachhochschulen gegenüber universitären Hochschulen – gerade beim Programm Horizon 2020, das grossen Wert auf die Vernetzung mit der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft legt.
Wie Thalwil zur Lösung gesamteuropäischer Fragen beiträgt
Was hat die Energiewende in Thalwil mit gesamteuropäischen Herausforderungen zu tun? Am Beispiel der Zürichseegemeinde – sowie Gebieten in Griechenland, Dänemark, Spanien und Bulgarien – soll im Projekt RRI-Leaders untersucht werden, ob und wie aktuelle Konzepte und Methoden der Forschung eine Region in ihrem Transformationsprozess voranbringen – und welche Rolle geografische und kulturelle, sozioökonomische und politische Unterschiede dabei spielen. Fridolin Brand und sein Team vom Center for Corporate Responsibility der ZHAW beraten und begleiten dazu die Gemeinde Thalwil über drei Jahre hinweg bei ihrer Entwicklung. RRI steht für Responsible Research and Innovation. Das Konzept baut auf der Überzeugung auf, dass nachhaltige und sozialverträgliche Forschung breiter in der Gesellschaft abgestützt werden muss. Bürger und Stakeholder sollen frühzeitig einbezogen werden und Innovationen stärker an tatsächlichen Bedürfnissen ausgerichtet werden.
Viele Wege führen zu Horizon
Die europäische Forschung soll auch künftig ein starkes Gewicht an der ZHAW haben, besonders im Hinblick auf Horizon Europe, das Forschungsrahmenprogramm der EU von 2021 bis 2027. Die Fachhochschule hat deshalb ihre bisherige EU-Strategie analysiert und neue Massnahmen ausgearbeitet. «Die transnationale Forschung muss noch viel breiter auf die verschiedenen Departemente und Institute verteilt werden», resümiert Martin Jaekel, Leiter der Stabsstelle F&E, der die Strategie mit ausgearbeitet hat.
Obwohl das Ziel grundsätzlich für alle dasselbe ist – mehr transnationale Forschungs- und Entwicklungszusammenarbeit –, muss den Departementen und Instituten bei der Festlegung der einzelnen Schritte grosse Freiheit gelassen werden, wie Jaekel sagt. Schliesslich befänden sie sich auf dem Weg zur europäischen Forschungszusammenarbeit in ganz unterschiedlichen Umfeldern. «Wir verlassen uns hier vor allem auch auf die Kreativität und das Engagement der Institute und Zentren der ZHAW, um geeignete Zwischenziele zu identifizieren», so Jaekel. «Dies möchten wir mit unserer Förderung unterstützen.»
Scheitern will gelernt sein
Zur Erfahrung mit so grossen Forschungsrahmenprogrammen wie Horizon gehört auch: scheitern lernen. «Die europäische Forschung ist hochkompetitiv», sagt Grants Advisor Patrik Ettinger. Liege die Erfolgsquote für einen Forschungsantrag beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) bei 25 bis 50 Prozent und bei Programmen wie Innosuisse sogar noch höher, komme man bei Horizon gerade einmal auf 10 bis maximal 20 Prozent. Das müsse auch den Vorgesetzten der Forschenden bewusst sein. «Es ist unabdingbar, dass diese mit im Boot sitzen und abgelehnte Projektgesuche nicht einfach für verlorene Zeit halten.»
«Wir sind es gewohnt, mit Privatunternehmen, NGOs oder öffentlichen Ämtern zusammenzuarbeiten.»
Für mehr Forschungsprojekte soll zudem eine weitere Massnahme sorgen. «Es gibt viele erfolgsversprechende Förderinstrumente, die an der ZHAW bisher kaum genutzt wurden, weil sie eine Eigenbeteiligung voraussetzen», erklärt Ettinger. Für solche Programme will die Fachhochschule fortan ebenfalls Mittel zur Verfügung stellen. So übernimmt sie je nachdem bis zu 250’000 Franken Eigenbeteiligung an einem erfolgreich eingereichten Projekt. Eine Million Franken stehen insgesamt pro Jahr bereit dafür. Gestärkt werden soll die Forschungsaktivität darüber hinaus durch gezieltere Unterstützung und Betreuung der Forschenden.
Diskussion um Rahmenvertrag sorgt für Verunsicherung
Die Partizipation der ZHAW an Horizon Europe hängt jedoch nicht nur von ihrer eigenen Strategie ab – auch die Politik spielt mit. «Obwohl die Verhandlungen zum Forschungsprogramm und zum Rahmenvertrag mit der EU rechtlich nichts miteinander zu tun haben, dürften sie wohl nicht unabhängig voneinander geführt werden», vermutet Ettinger. Es wäre nicht das erste Mal. Schon die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 hatte zur Folge, dass die Schweiz in den ersten drei Jahren von Horizon 2020 nicht als assoziierter Staat am Programm teilnehmen konnte, sondern als Drittstaat galt. Das bedeutete, dass hiesige Hochschulen wie die ZHAW keine Förderbeiträge direkt von der EU beantragen und in der Regel keine Projektkoordinationen übernehmen konnten.
Sorge bereiten Ettinger dabei nicht in erster Linie die Forschungsgelder. Wie schon vor ein paar Jahren dürfte auch dieses Mal das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI einspringen, falls sich die Situation wiederholen sollte, sagt er. «Die Finanzierung ist gesichert.» Es ist vielmehr die Verunsicherung potenzieller Projektpartner in Europa, die Ettinger Kopfzerbrechen bereitet. «Viele dürften sich nun fragen, ob eine Zusammenarbeit mit Schweizer Hochschulen überhaupt möglich sei oder ob Probleme auftreten könnten, etwa bei der Verwertung der Ergebnisse.» Doch von ihrem Engagement auf dem europäischen Parkett lässt sich die ZHAW deshalb nicht abbringen.
Das könnte Sie auch interessieren
- «Ziel ist, dass wir voll assoziiert werden bei Horizon Europe»: Martina Hirayama, Staatssekretärin für Bildung, Forschung und Innovation über die Bedeutung von Horizon Europe für die Schweiz, Lücken in der Förderkette, Forschung von morgen und deren Grenzen.
- Weshalb Fachhochschulen europäisch forschen sollten – fünf gute Gründe
- «Horizon Europe ist für die ZHAW von zentraler Bedeutung» Drei Fragen an Rektor Jean-Marc Piveteau zum EU-Forschungsrahmenprogramm, zu Forschungserfolgen und zu Grenzen der Forschung.
0 Kommentare
Sei der Erste der kommentiert!