Warum Journalismus Normalität meidet wie der Teufel das Weihwasser
«Media literacy in a nutshell»: Was ist daran normal, dass der Journalismus Normalität fürchtet? Und warum stillt er trotzdem die Sehnsucht nach dem Normalen? Das erklärt ZHAW-Journalistik-Professor Vinzenz Wyss in Text und Video.
Stellen Sie sich vor, ein 70-jähriger Milliardär aus Südafrika verschafft sich während des Lockdowns im Thurgau mit behördlichem Segen Zugang zum Corona-Impfstoff der Spitalgruppe Hirslanden, während das Gesundheitspersonal auf die Impfung warten muss. Auch wenn einige vielleicht denken, dies sei normal, Geld regiere schliesslich die Welt, stossen sich viele an der irritierenden Bevorteilung. Sie finden, dieser Fall sei unter ethischen Gesichtspunkten zu diskutieren, weil Corona-Impfungen ein knappes, öffentliches Gut seien und die Gesundheitsbehörde ihre Verantwortung für eine gerechte Verteilung wahrnehmen müsse.
Für den Journalismus ist der Fall ein gefundenes Fressen. Er reagiert primär auf das, was irritiert, was vom Gewohnten und damit eben vom erwartbar Normalen abweicht. Die Auseinandersetzung mit dem Konzept «Normalität» in dieser «Impact»-Ausgabe bietet mir eine gute Gelegenheit, die Logik des Journalismus zu erklären; einer Institution, die eben gerade nicht das Normale thematisiert, sondern das davon Abweichende sucht und als Medienrealität inszeniert. Lassen Sie mich also versuchen, mit wenigen Sätzen zu schildern, was daran normal ist, dass der Journalismus Normalität fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, und warum er trotzdem letztlich die Sehnsucht nach dem Normalen stillt. «Media literacy in a nutshell», wenn Sie so wollen.
Orchestriert den öffentlichen Diskurs
Als systemtheoretisch angehauchter Journalismusforscher verstehe ich Journalismus als ein gesellschaftliches System, das aufgrund seiner eigenen Rationalität Komplexität reduziert und auf eine spezifische Problemlösung spezialisiert ist. Genauso wie beispielsweise Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion oder Erziehung erfüllt auch der Journalismus für die Gesellschaft exklusiv eine Funktion: Er organisiert und orchestriert in der «Jetzt-Zeit» den öffentlichen Diskurs über Themen, bei denen sich gegenseitig irritierende Logiken aus verschiedenen Gesellschaftssystemen aufeinanderprallen.
Ein Beispiel: Wenn die Baudirektion in der Stadt Zofingen an einer dicht befahrenen Kreuzung einen Kreisel bauen will, benötigt sie zur Machtdurchsetzung einen rechtsgültigen Volksentscheid an der Urne. Gut möglich, dass das Vorhaben manchen zu teuer ist. Andere finden, es sei unmoralisch, sich aus ökonomischen Gründen dagegen zu entscheiden, weil doch wissenschaftliche Studien mehr Sicherheit versprechen würden. Wiederum anderen passt der Kreisel nicht, weil die darauf geplante Skulptur ihre ästhetische Geschmacksempfindung stört. Und – wer weiss? – vielleicht ist man ja innerhalb der ehemaligen Ortspartei CVP zerstritten, ob die unscharfe Mitte des Kreises besser gefällt als der Schnittpunkt im Kreuz.
«Journalismus reagiert angesichts der Irritation auf öffentlichen Diskursbedarf und giesst in seinen Berichten komplexe Sachverhalte mit Konfliktpotenzial in eine narrative Struktur.»
So ist das häufig im gesellschaftlichen Zusammenleben: Deutungen und Argumente der einen Systemlogik irritieren diejenigen aus anderen Systemen. Genau dann kommt der Journalismus ins Spiel. Er reagiert angesichts der Irritation auf öffentlichen Diskursbedarf und giesst in seinen Berichten komplexe Sachverhalte mit Konfliktpotenzial in eine narrative Struktur.
Gauner, Opfer, Heldinnen
Dabei ist der Auslöser einer journalistischen Geschichte meist das unvorhersehbare und unerwartete Abweichen vom Gewohnten, das sich als Störung oder gar als Bedrohung eines gesellschaftlichen Gleichgewichts inszenieren lässt. In der Regel besteht zunächst Ungewissheit über den Ausgang der Irritation – sicher, bis eine weitere Entscheidung oder ein neues Ereignis folgt. Wie im Märchen vom Wolf und den sieben Geisslein lässt auch der Journalismus uns längst vertraute Rollen wie Gauner, Opfer, gute Mütter, Heldinnen oder Erlöser implizit anklingen, um seine Erzählungen verständlicher zu machen.
Sehnsucht nach einem Happy End
Wir aber lechzen wie auch beim Hören eines Märchens nach einem guten Ausgang der Geschichte. Das Stillen der Sehnsucht nach dem Normalen kann also durchaus Treiber des Journalismus sein. Er legt zwar seine Finger zunächst in die Wunden sich gegenseitig irritierender wirtschaftlicher, rechtlicher, wissenschaftlicher, künstlerischer oder moralischer Vorstellungen von Problemlösung; dies aber letztlich mit dem Ziel, nach dem von ihm vorangetriebenen öffentlichen Diskurs ein «normales» gesellschaftliches Gleichgewicht wiederherzustellen.
Weitere Informationen über den Autor Vinzenz Wyss und zum Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW
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