
Der digitale Zwilling von Grüze
Das Horizon-Projekt MOVEO will mit smarten und integrierten Lösungen die Mobilität im Personen- und Güterverkehr grundlegend verbessern. Mittendrin: der Winterthurer Bahnhof Grüze, der zu einem multimodalen Verkehrshub ausgebaut wird.
Wer kennt es nicht? Der Zug hat nur wenige Minuten Verspätung und doch reicht es nicht, um den Bus zu erwischen, weil am Hauptbahnhof ein Gedränge herrscht. Oder es bleibt am Morgen wieder einmal kein Parkplatz in der Nähe des Bahnhofs übrig. Solche Situationen sind nicht nur für den Einzelnen ein Ärgernis, sie haben auch finanzielle und ökologische Folgen, etwa wenn einzelne Linien des öffentlichen Verkehrs nicht ausgelastet sind oder Menschen ganz auf das Auto statt auf den öV setzen.
Multimodale Verkehrsknotenpunkte – Orte, wo verschiedene Verkehrsmittel aufeinandertreffen, zahlreiche Menschen umsteigen oder Waren umgeladen werden – sind mit der steigenden Komplexität der Mobilität mehr denn je forschungsrelevant. Das Horizon-Projekt MOVEO (Intelligent Framework for Inclusive and Seamless Transport Infrastructure and Mobility Services), an welchem die ZHAW als assoziierte Partnerin beteiligt ist, hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, durch die Bereitstellung von smarten und integrierten Lösungen die Mobilität im Personen- und Güterverkehr zu verbessern. Teil von MOVEO sind 16 Partner aus neun europäischen Ländern sowie fünf Demonstrationsstandorte mit unterschiedlichen Infrastrukturen, klimatischen Bedingungen und Entwicklungsphasen.
«Mit dem entwickelten Tool können wir in Zukunft eine objektive Entscheidungsgrundlage für alle Beteiligten liefern.»
Im Rahmen des Projekts sollen unter anderem digitale Zwillinge von real existierenden Verkehrsknotenpunkten erstellt werden. Diese Modelle ermöglichen die Überwachung und Optimierung der Verkehrssituation vor Ort und können auch in anderen Verkehrshubs genutzt werden, sofern diese ähnliche Rahmenbedingungen aufweisen. Das Institut für Datenanalyse und Prozessdesign (IDP) der School of Engineering wird einen digitalen Zwilling vom Winterthurer Bahnhof Grüze anfertigen. Das Quartier rund um diesen Bahnhof hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt. Es entstanden über tausend neue Wohnungen und Hunderte von neuen Arbeitsplätzen. Die Stadt Winterthur hat deshalb und auch in der Absicht, den Hauptbahnhof Winterthur zu entlasten, beschlossen, Grüze zu einem multimodalen Verkehrshub auszubauen. Für MOVEO eignet sich der Standort Grüze gut als Reallabor, weil er die Erforschung von Mobilitätsphänomenen an einem dynamischen Verkehrsknotenpunkt ermöglicht und die Projekterkenntnisse direkt in dessen Optimierung einfliessen können.
Für eine smarte und nachhaltige Mobilität
Dass Grüze zu einem der sechs Demonstrationsstandorte von MOVEO wurde, geht auf die Zusammenarbeit zwischen der ZHAW und dem Winterthurer Amt für Stadtentwicklung beim Projekt «Smart City Winterthur» zurück. Vicente Carabias, Leiter des Forschungsschwerpunkts Nachhaltige Energiesysteme und Smart Cities an der School of Engineering, erkannte die Synergien, die sich durch die Stossrichtung der Stadt beim Ausbau von Grüze zum Verkehrshub und den Forschungsbedarf im Bereich der nachhaltigen Mobilität bieten. Es trifft sich zudem gut, dass «Smart City Winterthur» ein Projekt zur optischen Ermittlung von Verkehrsdaten mithilfe von künstlicher Intelligenz fördert. Die zur Modellierung von Grüze erforderlichen Daten stellen nämlich eine Herausforderung dar, sagt MOVEO-Projektleiter Claudio Gomez: «Als eine der ersten Projektetappen im Herbst werden wir mit der Beschaffung der Daten beginnen. Wir gehen aktuell davon aus, dass wir zum Veloverkehr nicht viele Daten finden werden und solche selbst erheben müssen.» Anders ist die Situation im Bereich der Lichtsignalsteuerung: «Dank dem breiten Einsatz von Sensoren und Kameras sind immer mehr Daten vorhanden. Sie ermöglichen uns, die Auswirkung von Lichtsignalanlagen zu erforschen und bestimmte Phänomene im Verkehr besser zu verstehen», so Gomez.
Expertise aus Dänemark für mehr Inklusion
Für die Projektverantwortlichen sind die Sicherstellung der Barrierefreiheit und die laufende Optimierung der Inklusion ein zentraler Aspekt: «Grüze ist ein Mobilitätshub mit zahlreichen unterschiedlichen Anspruchsgruppen. Wir möchten zum Beispiel sicherstellen, dass Menschen mit Gehbehinderung den Hub ohne Einschränkung nutzen können und dass Velos und der Fussverkehr sicher aneinander vorbeikommen», erklärt Stephan Bütikofer vom IDP.
Zur Erforschung der Verbesserung der Inklusion arbeitet die ZHAW mit einem MOVEO-Projektpartner aus Dänemark zusammen, der in diesem Bereich über eine grosse Expertise verfügt und für das Projekt die Daten erhebt. «Das Team sammelt qualitative Nutzererfahrungen, um sogenannte «Pain Points» im Mobilitätsalltag zu identifizieren. Diese Daten vermitteln uns die Nachfrageseite und erlauben uns, ein klareres Bild des Optimierungspotenzials zu gewinnen», so Bütikofer. Einige Fragen seien etwa: Wurden wichtige Bedürfnisse nicht erkannt? Reicht die Beleuchtung aus, damit sich die Bevölkerung sicher fühlt? Braucht es ein Freizeitangebot im Hub? Und: Wie gelangen die Leute zum Hub?
Der Standort Grüze eignet sich gut als Reallabor, weil er die Erforschung von Mobilitätsphänomenen an einem dynamischen Verkehrsknotenpunkt ermöglicht.
Viele Stakeholder – eine Rechnung
Mobilitätshubs stellen gemäss Bütikofer auch hinsichtlich ihrer Finanzierung eine Herausforderung dar. Im Falle der Querung Grüze, einer im Bau befindlichen neuen Verbindungsbrücke für den Bus-, Velo- und Fussverkehr, sind neben den Verkehrsbetrieben auch der Bund, der Kanton und die Stadt Winterthur beteiligt. Die Modellierung des Hubs und das dadurch ermöglichte Monitoring der Personenflüsse werden den Projektverantwortlichen zufolge eine wichtige Grundlage schaffen, um die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Stakeholdern zu erleichtern: «Mithilfe des Tools, das wir entwickeln, können wir in Zukunft auch eine objektive Entscheidungsgrundlage für alle beteiligten Partner liefern, insbesondere für die Klärung von finanziellen Fragen», so Bütikofer.
Die Mobilitätsplanung von morgen
Die Projektarbeit an der ZHAW hat im Oktober 2025 gestartet. Der Zeithorizont beträgt gemäss Gomez zwei bis drei Jahre. Langfristig gesehen sei die Modellierung des Mobilitätshubs Grüze ein wichtiger Schritt Richtung moderner Nachfragemodellierung auf Quartier-/Mobilitätshub-Ebene. Zwar gebe es in der Schweiz bereits datenbasierte Gesamtverkehrsmodelle, die Daten zu Bevölkerung, Wirtschaft und Mobilitätsverhalten nutzen. Doch auf lokaler Ebene sind Nachfragemodelle oft weniger differenziert, beruhen auf älteren Erhebungen oder simplen Annahmen. «Mit dem digitalen Zwilling von Grüze schlagen wir hier eine Innovation vor: Wir wollen die Nachfrage digital und flexibel abbilden, sodass wir schneller auf neue Entwicklungen reagieren und das Verkehrsangebot zeitnah anpassen können.»
Aufmacherbild: StadtWinterthur/Marcus Schmid
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