
Digitaler Zwilling verbessert Schulterbehandlung
Beschwerden an der Schulter sind häufig. Ein an der School of Engineering entwickeltes Programm soll Diagnosen und personalisierte Therapien erleichtern.
Die Schulter ist ein komplexes Gelenk. Sie erlaubt Armbewegungen in drei verschiedene Richtungen und wird je nach Beruf und Lebensgestaltung stark beansprucht. Für Stabilität sorgt die sogenannte Rotatorenmanschette – eine Gruppe von vier Muskeln, die das Gelenk umgeben und den Oberarmkopf in der Gelenkpfanne halten. Verletzungen und Funktionseinschränkungen an dieser Stelle sind häufig: Etwa jede fünfte Person soll an den Sehnen der Rotatorenmanschetten kleine Risse aufweisen, ab dem 80. Altersjahr sogar jede zweite. Denn mit zunehmendem Alter häufen sich Mikrotraumata und die Blutversorgung nimmt ab. Degenerationen bleiben zwar zunächst oft unbemerkt, doch auf die Dauer treten häufig Beschwerden auf.
Da sowohl die Anatomie als auch die Art der Schädigung sehr unterschiedlich sein kann, ist die Wahl der optimalen Behandlung oft komplex. Dies soll das im November 2024 gestartete Projekt InnoTreat des Instituts für Mechanische Systeme (IMES) erleichtern. Dank einer Förderung durch die Digitalisierungsinitiative des Kantons Zürich (DIZH) entwickelt ein Team der School of Engineering mit drei Projektpartnern ein Programm, das digitale Zwillinge von Schultergelenken erstellen kann. Bei einem digitalen Zwilling handelt es sich um ein virtuelles Modell einer Person, das auf medizinischen Daten basiert. Es hilft, Diagnosen zu verbessern, Behandlungsverläufe sicher zu simulieren und personalisierte Behandlungsentscheide zu ermöglichen. «Die Simulation am Computer macht es einfacher, alle relevanten Parameter und deren Zusammenhang zu untersuchen», sagt Projektleiter Jeremy Genter.

Darstellung der Kräfte
Anhand von MRI- oder Röntgenbildern ist zum Beispiel ersichtlich, wie weit das sogenannte Schulterdach – ein Knochen oberhalb der Rotatorenmanschette – nach vorne reicht. Aus diesen und anderen Daten soll das Programm berechnen, wie sich die Kräfte bei verschiedenen Bewegungen verteilen, und eine Visualisierung liefern. «Der digitale Zwilling wird es Ärztinnen und Ärzten erlauben, spezifische Anatomien grafisch darzustellen und die Auswirkung einzelner Behandlungsmethoden auf künftige Belastungen vorwegzunehmen», erklärt Genter. Gängige Ansätze sind zum Beispiel physiotherapeutische Verfahren oder Operationen, bei denen Defekte repariert oder Knochenformen verändert werden. Das neue Instrument liefere aufschlussreiche Erkenntnisse, die zu einer patientengerechteren Behandlung beitragen, sagt Jeremy Genter.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter und biomechanische Ingenieur hat bereits seine Doktorarbeit auf dem Gebiet der Schulterpathologie geschrieben. Dafür hat er mit einem komplexen mechanischen Modell gearbeitet, welches das Schultergelenk anhand von Seilzügen simuliert, die an künstlichen und echten Knochen befestigt sind. Damit hat er Rupturen an der Rotatorenmanschette untersucht. Später entstand die Idee, das Projekt zu einer digitalen Anwendung weiterzuentwickeln.
Aufwendiges Zulassungsverfahren
Im Bereich Biomechanik ist neben der ZHAW die Technische Universität im niederländischen Delft beteiligt, während die Universität Zürich mit ihrer Expertise in bildgebenden Verfahren zum Projekt beiträgt. Eine langjährige Zusammenarbeit bestand bereits mit dem Universitätsspital Basel, von wo die Messwerte von realen Patientinnen und Patienten sowie einer gesunden Kontrollgruppe stammen. Hier wird auch die Implementierung in die klinische Praxis erfolgen. Bis im April 2026 werden verschiedene Ärztinnen und Ärzte das Instrument testen und Optimierungsvorschläge einbringen.
Bis zur Zulassung in der Praxis könne es jedoch noch eine Weile dauern, stellt der stellvertretende Projektleiter Daniel Baumgartner in Aussicht. Da es sich um ein medizinisches Produkt handelt, seien diverse Tests und schliesslich eine Zertifizierung nötig, erklärt der Professor mit Forschungsschwerpunkt Biomedical Engineering. Das sei aufwendig und werde wohl noch mehr Geld kosten. «Wir müssen zeigen können, dass unsere Innovation den Heilungsverlauf tatsächlich beschleunigt und verbessert.»
Weitere Infos
(Headerbild: Adobestock/nBhutinat)
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