
Der Griff nach den Sternen
Bei der akademischen Raumfahrtinitiative Schweiz (Aris) entwickeln Studierende mehrerer Schweizer Hochschulen eigenverantwortlich Höhenforschungsraketen und weitere Systeme für die wissenschaftliche Raumfahrt. Ein Besuch im Hangar.
Morgens um 10 Uhr herrscht ein geschäftiges Treiben auf dem Areal des Militärflugplatzes Dübendorf. Wo früher Kampfjets starteten, tüfteln heute mehrere studentische Arbeitsgruppen an ihren Projekten. Auf dem Areal entsteht ein Innovationshub, der einst der grösste europaweit werden soll. Mittendrin: Aris, die akademische Raumfahrtinitiative. In ihrem Bereich herrscht eine chaotische Gemütlichkeit. Schränke, Regale mit allerlei Werkzeug, ein grosser Tisch mit Laptops, ein Modell eines Raketenantriebs, ein Pallet mit Energydrinks, eine Couch – und ganz nonchalant im Hintergrund: drei Raketen. Eine davon ist die Höhenforschungsrakete Nicollier. Höhenforschungsraketen sind unbemannte Raketen, die während des Flugs physikalische Messungen in der Atmosphäre durchführen. Dank eines integrierten Bergungssystems sind sie wiederverwendbar. 2024 gelang es Aris mehrmals, Nicollier 1000 Meter in die Höhe zu schiessen und nur wenige Meter vom geplanten Ort sicher landen zu lassen. Der Höherekord liegt gar bei über 10 Kilometern.
2017 von ETH-Studierenden gegründet, beteiligen sich mittlerweile rund 200 Studierende von fünf Schweizer Hochschulen bei Aris – von der ZHAW, der Universität Zürich, der Fachhochschule OST sowie der Hochschule Luzern. Sie setzen eigenständig ambitionierte Projekte für Raumfahrtanwendungen um, neben Höhenforschungsraketen auch Robotiksysteme und Satelliten. Ermöglicht werden die Projekte durch Sponsoren, sei es finanziell oder indem diese Komponenten zur Verfügung stellen. Auf die Unterstützung von rund achtzig Partnerunternehmen kann die Initiative heute zählen.
Neun Kilometer in die Höhe
Ist die Schweiz denn eine Raumfahrtsnation? «Nicht im klassischen Sinne», erklärt Jakob Meinrad Schreiber. Der 25-Jährige absolviert derzeit den Masterstudiengang Engineering in Aviation und ist ausserdem wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Aviatik der ZHAW School of Engineering. «Mit der Entwicklung von Hochpräzisionstechnik haben Schweizer Unternehmen jedoch eine wichtige Rolle in der Zulieferindustrie. Sie entwickeln zum Beispiel Anwendungen für Navigation, Kommunikation und Erdbeobachtung.» Beim letztjährigen Projekt Nicollier war Schreiber zusammen mit sechs anderen Studierenden für die Entwicklung der Elektronik und der Software zuständig. Beim aktuellen Raketen-Projekt Hermes ist er einer der System Engineers, also technischer Leiter des Projekts und auch Flight Director – derjenige, der bei einem Raketenstart das Go gibt. Das grosse Highlight ist jedes Jahr die Teilnahme an der European Rocketry Challenge, dem grössten europäischen Raumfahrtwettbewerb für studentische Teams. Mit Hermes will Aris als erstes studentisches Team Europas eine Höhenforschungsrakete mit einem Ethanol-Sauerstoff-Antrieb entwickeln. Dieser soll die Rakete mit einer Geschwindigkeit von rund 1400 km/h rund neun Kilometer in die Luft zu bringen.
Saturn und Pole erforschen
Neben Schreiber engagieren sich derzeit sechs weitere ZHAW-Studierende bei Aris. Einer von ihnen ist Victor Elliesen, der International Management an der School of Management and Law studiert. Der 22-Jährige hat bei Aris gleich mehrere Rollen inne: Er ist Vice-President, Head of Industrial Relations und Projektleiter. In seinem Projekt Nautilus entwickelt das Team ein unbemanntes Unterwasserfahrzeug, das wissenschaftliche Daten sammelt. Elliesen erklärt: «Bisherige System halten einige Wochen durch. Unser Ziel ist es, dass Nautilus bis zu drei Monaten in 300 Metern Tiefe eingesetzt werden kann.» Unterstützt wird das Team von der Eawag, dem Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs. Das Fernziel ist, damit die Eismonde des Saturns zu erkunden. Der propellerlose Gleiter eignet sich aber auch zur Anwendung auf der Erde, etwa für die Polarforschung. 2026 sind simulierte Polartests in Norwegen geplant.
Learning by doing
Hört man die Studierenden erzählen, stellt sich natürlich die Frage, woher sie dieses hochkomplexe Wissen haben – immerhin handelt es sich hier ja tatsächlich um Rocket Science. «Vieles ist Learning by Doing», sagt Schreiber. «Aus dem Aviatikstudium habe ich das grundlegende Verständnis für Technologie, Physik sowie Methodik und weiss, wie man sich selbstständig Wissen aneignet. » Nicht alle Beteiligten haben jedoch einen technischen Hintergrund, so auch Elliesen nicht. «Wie in jedem Unternehmen sind auch bei Aris unterschiedliche Fähigkeiten gefragt», sagt er. Für jedes Projekt werden interdisziplinäre Subteams definiert, die das nötige Knowhow abdecken. Die Studierenden der ETH kommen eher aus den geeigneten technischen Studiengängen. Die der ZHAW bringen jedoch oft schon Arbeitserfahrung mit, was sehr willkommen sei. Elliesen erklärt: «Es braucht auch Leute mit dem Verständnis für das grosse Ganze. Ich könnte keine Steuerung programmieren, dafür mit potenziellen Sponsoren sprechen. Heute diskutiere ich mit diesen auch über Legierungen und Produktionsprozesse – dieses Wissen habe ich mir selbst angeeignet.»
Hands-on-Erfahrung
Das Engagement bei Aris ist ehrenamtlich. Für Elliesen und Schreiber ist die Erfahrung jedoch unbezahlbar: «Was mich am meisten motiviert: Selbstständig hochkomplexe Systeme zu entwickeln», sagt Schreiber. «Die Verantwortung, die wir übernehmen, ist enorm – wir hantieren zum Beispiel mit 300 bar und flüssigem Sauerstoff. Hier lernt man innerhalb eines Jahres so viel wie in einem Unternehmen im besten Fall in fünf Jahren.» Elliesen ergänzt: «Wer interessiert ist und Verantwortung übernehmen will, ist hier richtig. In einigen Teams arbeiten 50 Leute zusammen und das Board führt 200 Personen. Das erfordert Skills, die man in keinem Studium lernt.» Auch die Höhe des Budgets ist für einen studentischen Verein nicht zu verachten: 2024 nahm Aris Beiträge in der Höhe von über 850 000 Franken in Form von Finanz- und Sachleistungen ein. Die Vernetzung mit Gleichgesinnten ist ein weiterer wertvoller Aspekt. «Die Motivation im Team ist riesig. Und mittlerweile arbeiten bei jedem grösseren Raumfahrtunternehmen ehemalige Aris-Mitglieder. Auch Rabea Rogge, die 2024 als erste deutsche Frau ins All flog, ist eine Aris-Alumna», berichtet Elliesen. «Viele Alumni bleiben mit dem Verein in Kontakt und stehen uns mit Rat und Tat zur Seite.»
Im Bundeshaus und an der Expo
Dass Aris als ernsthafter Player in der Raumfahrtszene wahrgenommen wird, beweisen in den letzten Monaten gleich zwei Einladungen von hochrangiger Seite: Für die Vernehmlassung zum geplanten Schweizer Raumfahrtgesetz brachten Elliesen und drei seiner Kolleg:innen ihr Fachwissen im Nationalrat ein und Swissnex lud Aris als Vertretung der Schweizer Raumfahrtindustrie an die Weltausstellung in Osaka ein. Dort besuchten sie ausserdem das Schweizer Konsulat, wo es auch einen Austausch mit der Osaka Metropolitan University gab. «Zu merken, dass man wirklich etwas erreichen kann, war enorm motivierend», sagt Elliesen. Das Gefühl, gemeinsam mit einem Team etwas auf die Beine zu stellen, gefällt auch Schreiber sehr: «Die Faszination ist wie ein Sog, dem man nur schwer wieder entkommt. Ich gebe zu, dass ich auch schon morgens um 2 Uhr an einer Bar über technische Details diskutiert habe.» Längerfristig sehen sich beide in einem eigenen Startup. «So wie wir bei Aris arbeiten, ist meine Idealvorstellung: innovative Projekte, schnelles Vorgehen, motiviertes Team», schwärmt Schreiber. Auch der Verein selbst hat sich zum Ziel gesetzt, in den nächsten Jahren einige Spin-Offs hervorzubringen. Elliesen: «Die Zeit ist reif, Europa muss in der Raumfahrt autonomer werden. Das Know-how ist auf jeden Fall da – und motivierte Studierende können sich jederzeit bei uns melden.»
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