Die graue Energie mitdenken

21.03.2023
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Die Baubranche beginnt punkto Nachhaltigkeit umzudenken. Das zeigt sich auch in der Architekturausbildung.

Was Nachhaltigkeit in der Architektur bedeutet, ist seit den Ölpreis-Schocks der 1970er Jahre eigentlich klar: Ein Haus braucht eine dicke Wärmedämmung. Heute sind dreifach verglaste Fenster Standard, oft kommt mit dem Minergie-Standard eine kontrollierte Lüftung hinzu. Das senkt den Energieverbrauch eines Hauses vor allem bei der Heizung. Die massive Verbesserung der Gebäudehülle sei sicher notwendig gewesen, sagt Andreas Sonderegger. Dennoch sieht der Co-Leiter des IKE Institut Konstruktives Entwerfen im ZHAW-Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen den langjährigen Fokus auf die Betriebsenergie heute kritisch. 

«Wie viel graue Energie nötig ist, um ein Haus überhaupt zu bauen, hatte man lange Zeit nicht auf dem Radar.»

Andreas Sonderegger, Co-Leiter IKE Institut Konstruktives Entwerfen

«Betrachtet wurde nur der Energieverbrauch, wenn das Haus mal steht», stellt der Architekt fest. Alte Gebäude, als Energieschleudern verpönt, pflegte man kurzerhand abzubrechen und durch energieeffiziente Neubauten zu ersetzen. «Wie viel sogenannt graue Energie nötig ist, um ein Haus überhaupt zu bauen, hatte man lange Zeit nicht auf dem Radar», sagt der 57-Jährige. 

Baubestand so weit wie möglich erhalten

Mittlerweile hat ein Umdenken eingesetzt. Davon zeugen die Debatten bei Bauen Schweiz, dem Dachverband der Branche. Die ausführende Bauwirtschaft fordert dort zwar Subventionen für Ersatzneubauten. Die Planerverbände hingegen machen sich stark für eine Gesamtbetrachtung, die mit Blick auf die graue Energie nahelegen würde, den Bestand so weit wie möglich zu erhalten. 

Erkenntnisse aus der Forschung an der ZHAW stützen diese Haltung. So zeigte zum Beispiel der Architekt Adrian Kiesel mit seiner Masterthesis «Beton wiederverwenden!» neulich auf, wie gross die Hebelwirkung der grauen Energie ist, die in den Bauteilen steckt. Er wies nach, dass sich bei der Erstellung einer Gewerbehalle im Zürcher Hard-Quartier 1688 Tonnen CO2 einsparen liessen, wenn man Betonteile wiederverwenden würde.

«Indem ich mich beim Entwurfsprozess von verfügbaren Bauteilen inspirieren lasse, ergeben sich manchmal völlig unerwartete, überzeugende Lösungen.»

Adrian Kiesel, Masterstudent

Sein Ansatz ist so radikal wie überzeugend: Bei einem Abbruchobjekt in der Umgebung werden intakte Betonelemente Geschoss um Geschoss in der benötigten Grösse herausgeschnitten, auf die Baustelle transportiert und dort beim Neubau eingesetzt. Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) verlieh der Arbeit eine Anerkennung im Rahmen des SIA-Masterpreises Architektur 2022. 

Kreislaufwirtschaft bei Industriegebäuden

In Sachen Nachhaltigkeit und graue Energie gehört die ZHAW zu den Treibern der Debatte. Schon früh setzte das IKE Schwerpunkte. Mittlerweile zieht sich das Thema im Fach Energiekultur durch alle Semester. Das hat auch mit dem Standort der Winterthurer Architekturschule zu tun. Was Kreislaufwirtschaft kann, zeigt sich gleich vor der Tür. Viele alte Industriegebäude auf dem Lagerplatz-Areal sind saniert, ohne dass man von aussen viel davon merkt.

Und das Architekturbüro «in situ» realisierte jüngst mit dem Neubau K.118 eine bemerkenswerte Aufstockung einer Sulzer-Halle. Er besteht bis hin zur Tragstruktur aus Stahl – ein schweizerisches Novum –, grösstenteils aus wiederverwendeten Bauteilen. Das IKE begleitete dieses Projekt von 2018 bis 2021 wissenschaftlich. Auch die Studierenden rechneten, massen, modellierten und hinterfragten. «Wer bei uns ein Masterstudium macht, ist bei neuen Entdeckungen hautnah dabei», beschreibt es Andreas Sonderegger.

Alte Skiliftmasten in neuen Gewerbebau

So befasste sich auch Sandro Hauser im Frühlingssemester 2022 mit zirkulärem Bauen. Der Bündner erinnerte sich an ausgediente Skilifte im Gebiet des San Bernardino, die seit 2012 ungenutzt in der Landschaft stehen. Seine Masterarbeit untersucht die Demontage der Skiliftmasten aus Stahl und ihre Wiederverwendung weiter unten im Tal, um in einer Genossenschaft die traditionelle Kastanienwirtschaft wieder anzukurbeln.

«Wie wertvoll lokale Ressourcen sind, hat sich in der Pandemie auch durch die Lieferengpässe gezeigt.»

Sandro Hauser, Masterstudent Frühlingssemester 2022

Aus den Masten sollen eine Materialseilbahn und Gebäude für die Marroniverarbeitung werden. So entstehe ein lokaler Kreislauf, ähnlich wie früher, als die Bauern ebenfalls mit dem Vorhandenen gebaut hätten. Wie wertvoll lokale Ressourcen seien, habe sich in der Pandemie auch durch die Lieferengpässe gezeigt, sagt Hauser. Das bestätigt der SIA-Masterpreis Architektur 2022 für seine Arbeit.

Fehlte den jungen Architekten nicht die imposante Geste des Neubaus? Beide verneinen. Er finde das Entwerfen mit bestehenden Strukturen «total befreiend», sagt Adrian Kiesel. Aus dem engen Korsett der bestehenden Strukturen könne man sich gestalterisch lösen, indem man sich beim Entwurfsprozess von den verfügbaren Bauteilen inspirieren lasse. «Das ergibt manchmal völlig unerwartete, überzeugende Lösungen.» Ihm gehe es auch um die gesellschaftliche Verantwortung. «Vielleicht ist das eine Generationenfrage», ergänzt Sandro Hauser. Er ist 27-, sein Kollege 29-jährig. Für beide ist klar, dass sie am Thema dranbleiben. Adrian Kiesel will nun nachweisen, dass sich die Wiederverwendung ganzer Betonteile nicht nur ökologisch, sondern auch kostenmässig auszahlt. 

Weiterhin enorme Verschleuderung von Ressourcen

Noch viel Nachhaltigkeitspotenzial liegt brach. Es werde viel zu schwer gebaut, sagt Andreas Sonderegger, «das führt zu einer enormen Verschleuderung von Ressourcen». In den 1950er Jahren war eine Betondecke 14 Zentimeter dick, heute ist es oft das Doppelte. «Unsere Normen, etwa für die Akustik von Wohnbauten, wurden in einen Luxusbereich hochgeschraubt, den man wirklich hinterfragen muss.» Ein Fragezeichen setzt Sonderegger selbst bei den Dreifachverglasungen. Sie isolieren zwar besser. Im Winterhalbjahr reduzieren sie aber auch die passive Wärmegewinnung durch die Sonne, wie studentische Untersuchungen gezeigt hätten. Die zusätzliche graue Energie, die im dritten Glas und den massiveren Fenstern stecke, könne man über die Lebensdauer des Fensters oft kaum herausholen. 

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