Nutzungsreserven auf der Spur

21.03.2023
1/2023

Einst trieben Quartiere mit Einfamilienhäusern die Zersiedelung voran. Heute bieten sie Chancen für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung. Doch die bedeutendsten Reserven schlummern in den Gewerbegebieten der Agglomerationen, sagen Fachleute der ZHAW.

«Wir wohnen in der Schweiz Jahr für Jahr weniger nachhaltig», stellt die Architektin Regula Iseli, Co-Leiterin des IUL Institut Urban Landscape fest. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person steigt noch immer an. Mittlerweile seien es gegen 50 Quadratmeter pro Kopf, je nachdem, welche Region man betrachte, sagt die Professorin mit Spezialgebiet Städtebau. Ein wichtiger Grund: der Flächenverschleiss durch viel zu gross ausgelegte Neubauwohnungen. Nachhaltig im Sinne der 2000-Watt-Gesellschaft wären 30 Quadratmeter.  

Umdenken bei den Wohnbaugenossenschaften

Erste Anzeichen für ein Umdenken ortet Regula Iseli bei den Wohnbaugenossenschaften. «Sie setzen viel daran, den Flächenverbrauch zu senken», stellt sie bei aktuellen Architekturwettbewerben fest. Kleinere Zimmer, weniger Badezimmer, strenge Belegungsvorschriften: Das funktioniert, weil Genossenschaften in einer Siedlung Räume anbieten, die man bei Bedarf temporär zumietet: Gästezimmer, Home-Office-Plätze, Werkräume. Und weil man in der Siedlung in eine kleinere Wohnung umziehen kann – oder muss –, wenn die Kinder ausgeflogen sind. 

«Der Baum- und Pflanzenbestand in nicht unterkellerten Gärten ist extrem wertvoll – kein Vergleich mit der armseligen Vegetation auf den Tiefgaragen neuer Siedlungen.»

Regula Iseli

Anderswo fehlen solche Möglichkeiten. Ein Umzug liegt nicht drin, weil der Mietzins für eine kleinere Wohnung viel zu hoch ist. Wer in der Stadt nicht mehr mit den steigenden Wohnkosten mithalten kann, zieht in die Agglomeration. Dorthin, wo heute schon Quartiere mit unterbelegten Einfamilienhäusern vom jahrzehntelangen Landverschleiss zeugen. Da wohnt auf 150 oder mehr Quadratmetern Wohnfläche oft nur ein älteres Ehepaar, manchmal auch nur eine Person. 

Nutzungsdichte erhöhen

Noch mehr Zersiedelung also? Das müsse nicht sein, sagt Regula Iseli. Neubauten auf der grünen Wiese seien unnötig. Das zeigte sich, als das Institut in einem Master-Studio verschiedene sankt-gallische Gemeinden unter die Lupe nahm. Studentische Arbeiten zeigten auf, wie hoch dort das Potenzial zur Innenverdichtung ist. Ein typisches Beispiel ist das Projekt «Perlenkette» in Oberriet: Gebäude für selbstständiges Gemeinschaftswohnen im Alter stärken die Identität des Orts. Zugleich spielen sie unterbesetzte ältere Einfamilienhäuser frei. 

Die Nutzungsdichte steigt bereits markant, wenn eine junge Familie einzieht. Vielleicht ist auch ein Anbau mit einer Einliegerwohnung möglich – und schon leben auf einen Schlag vier bis acht Personen dort. Wichtig sei, Sorge zur Biodiversität zu tragen, mahnt Regula Iseli: «Der Baum- und Pflanzenbestand in den nicht unterkellerten Gärten ist extrem wertvoll – kein Vergleich mit der armseligen Vegetation auf den Tiefgaragen neuer Siedlungen.» Das Verdichtungspotenzial der älteren Einfamilienhäuser dürfte in den kommenden sieben bis zehn Jahren voll zum Tragen kommen, wie ein Blick auf die Demografie zeigt: Die angestammte Generation, die dort wohnt, ist nun zwischen 80 und 95 Jahre alt.

«Komplett untergenutzte» Gewerbeareale

Jüngeren Erkenntnissen des Instituts zufolge liegen die wichtigsten Reserven jedoch anderswo. «Das grösste Verdichtungspotenzial bieten die Gewerbeareale, die man an jeder Ortseinfahrt findet», erläutert die Professorin. Sie machen gegen ein Drittel der verbauten Fläche aus und sind laut Iseli meist «komplett unternutzt»: eingeschossige Gebäude, Lager, dazwischen Wiesen, auf denen Schafe grasen – Entwicklungsreserven der jeweiligen Unternehmen. 

Restaurant, Indoorsport, Urban Farming

IUL-Projekte in aargauischen Gemeinden und in Wetzikon ZH zeigen auf, wie gross in solchen Gebieten die Möglichkeiten sind. Gewerbe- und Büronutzungen lassen sich auf drei Etagen stapeln, dank modularer Bauweise können auch Atelierwohnungen abgetrennt werden. Neben die Autowerkstatt kommt das Restaurant, weiter hinten steht die digitale Werkstatt mit Räumen für Startups. Ein Turm ist für Wohnen und Arbeiten auf Zeit reserviert. Ausbildungsräume, ein Musikclub, Urban Farming: Das Gewerbegebiet wird zum inspirierenden Quartier. Die grosse Halle dient im Erdgeschoss dem Indoorsport, darüber liegt ein Lagerraum, auf dem Dach gibt’s Platz für Salat- und Gemüseanbau.

«Viele Gemeinden haben realisiert, dass sich ihr bisheriges Modell nicht rechnet», sagt Iseli. Das mit Einfamilienhausgebieten angezogene Steuersubstrat vermöge die hohen Kosten für die Erschliessung der jeweiligen Gebiete nicht zu finanzieren. Deshalb gehe der Trend nun dahin, die vorhandene Infrastruktur durch sich ergänzende Nutzungen besser auszulasten.

«Partizipation ist ein schillernder Begriff, aber die Vorstellungen darüber, was genau Partizipation ist, gehen oft weit auseinander.»

Anke Kaschlik, Dozentin Community Development, Departement Soziale Arbeit

Echte Partizipation ist wichtig  

Hinter Nutzungen stehen Menschen. Doch wie können die Behörden Menschen zusammenbringen und an der nachhaltigen Entwicklung eines Quartiers beteiligen? «Partizipation ist ein schillernder Begriff, aber die Vorstellungen darüber, was genau Partizipation ist, gehen oft weit auseinander», sagt Anke Kaschlik vom Departement Soziale Arbeit. Im Projekt Neue Ideen für Zentren in der Agglomeration (NIZA) begleitet und entwickelt ein Team um die Dozentin Community Development und Sonja Kubat vom Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe seit drei Jahren Entwicklungsprozesse in Dübendorf, Illnau-Effrektion, Kloten und Schlieren. 

Eine wichtige Erkenntnis:  In den Verwaltungen fehlen nebst Ressourcen auch gute Erfahrungen mit Partizipation. «Wichtig ist, dass man zu Beginn des Prozesses aufzeigt, welche Entscheidungen noch zu treffen sind – und wo der Zug bereits abgefahren ist», sagt Kaschlik. Ein typischer Fehler: Eine Behörde fragt in einer Veranstaltung Ideen und Wünsche der Bevölkerung ab, erhält einen Strauss von Wünschen und kommuniziert nicht, wie Entscheidungen über die Umsetzung getroffen werden. «So produziert man viel Enttäuschung auf beiden Seiten», so Kaschlik.

Zwei Dinge sind zentral

Zentral seien zwei Dinge: erstens etwa mit kleinen partizipativen Verfahren gute Erfahrungen sammeln und dadurch Vertrauen aufbauen und zweitens, dass in der Behörde an einer Stelle alle Fäden zusammenlaufen. Denn Stadtentwicklung sei nicht nur eine sehr unübersichtliche, sondern auch eine Gemeinschaftsaufgabe. 

Echte Partizipation bedingt gedankliche Vorarbeit und ein Überwinden von Silodenken in der Verwaltung. Das zeigt sich auch in der Thurgauer Gemeinde Eschlikon, wo ein weiteres Projekt untersucht, wie sich eine breite Beteiligung der Bevölkerung bei lokalen Nachhaltigkeitsbestrebungen erzielen lässt. «Statt bloss einen Flyer mit Energiespartipps in alle Haushalte zu senden, gibt ihn zum Beispiel die Mitarbeiterin des Sozialdiensts beim monatlich fälligen Schaltertermin ab und ist zu einem Gespräch darüber bereit», sagt Kaschlik. Für andere Zielgruppen werden andere Zugänge gewählt.  

Bevölkerung forscht in Reallabors mit

Neue und im Alltag akzeptierte Lösungen zur Senkung des Energieverbrauchs lassen sich am besten dann finden, wenn man interessierte Gruppen aus der Bevölkerung früh einbezieht. In Reallabors, sogenannten «Living Labs», entwickeln sie gemeinsam mit Forschenden wegweisende Ideen und erproben deren Umsetzung. Das Bundesamt für Energie nutzt diesen Ansatz, um Innovationen zu fördern, die im Alltagsleben und bei der Arbeit mithelfen, die Klimawende zu schaffen. Das geschieht über das SWEET-Programm Living & Working, das bis 2029 läuft und Forschungskonsortien mit mehreren Hochschulen und Institutionen fördert. Am Programm sind rund ein Dutzend Forschende der School of Management and Law und der School of Engineering beteiligt. Sie arbeiten an mehreren Arbeitspaketen bei SWICE und LANTERN mit und steuern zwei Living Labs bei. Das eine ist das Winterthurer Quartier Lokstadt, das zweite positioniert die Stadt unter dem Titel WinLab im Rahmen von Smart City Winterthur (vgl. «Impact» Nr. 59, Dezember 2022) als Reallabor, in dem Interessierte aus Bevölkerung, Wirtschaft und Wissenschaft soziale und technische Innovationen testen können.

0 Kommentare

Sei der Erste der kommentiert!

Kommentar ist erforderlich!
Name ist erforderlich!
Gültige E-Mail ist erforderlich!
This site is protected by reCAPTCHA and the Google Privacy Policy and Terms of Service apply.