Long Covid: «Total erschöpft» nach zwei Stunden Arbeit
Manche kämpfen noch Monate nach einer Corona-Infektion mit gravierenden Symptomen. Ein Betroffener erzählt, wie sich Long Covid auf seinen Alltag auswirkt und wie er damit umgeht. Er nimmt an einer ZHAW-Studie teil, welche die Patientensicht ins Zentrum stellt.
Letzten Dezember wurde Marcel R. (Name geändert) positiv auf das Coronavirus getestet. «Ich erwischte wohl noch die Delta-Variante», vermutet der 58-Jährige. Obwohl ungeimpft, machte er sich anfänglich kaum Sorgen. Doch schon nach kurzer Zeit wies ihn der Hausarzt wegen zunehmender Atemnot ins Spital ein. Dort blieb ihm die Intensivstation dank einer Antikörper-Therapie erspart. Gegen Weihnachten wieder zu Hause, begann Marcel R. eine ambulante Reha im Spital. «Ich freute mich darauf, mit dem Genesenen-Zertifikat bald wieder Eishockey spielen zu können», blickt der Winterthurer zurück. Auch seine Arbeit als kaufmännischer Angestellter wollte er rasch wieder aufnehmen.
In der Schweiz sind etwa 20 Prozent der Infizierten betroffen
Doch aus alldem wurde nichts. Marcel R. hat Long Covid, auch Post Covid genannt, jenes noch nicht ganz verstandene Phänomen, bei dem drei Monate nach der Infektion anhaltende Beeinträchtigungen bestehen. In der Schweiz sind etwa zwanzig Prozent der Corona-Infizierten betroffen. Marcel R. leidet unter bleierner Müdigkeit, Kurzatmigkeit und Husten, Konzentrations- und Wortfindungsstörungen. «Am Anfang lag ich nur herum», erzählt er. Den Weg durchs Haus schaffte er nicht am Stück. Seine Frau stellte ihm Stühle hin, damit er Pausen einlegen konnte. Beim ersten Gehversuch draussen war nach zwanzig Metern Schluss: «Ich kämpfte und kämpfte, doch mehr ging einfach nicht.»
In der Post-Covid-Sprechstunde
Fünf Monate später bewältigt er etwas längere Strecken. Doch immer noch gerät er bei geringer Anstrengung ins Keuchen und ermüdet stark, etwa wenn der Weg leicht ansteigt oder wenn er eine Tasche trägt. Beim Zeitunglesen kann er die Informationen nicht mehr so gut aufnehmen. Auch seiner Arbeit konnte Marcel R. bisher nicht nachgehen. Wegen der längeren Krankschreibung ist die Invalidenversicherung (IV) auf den Plan getreten. Da habe er leer geschluckt, sagt er. Ein sportlicher, bis dahin gesunder Typ, Ehemann, Vater, Grossvater – plötzlich ein Fall für die IV? Er erfuhr dann, dass dies präventiv geschehe.
«Es gilt, die Patienten und ihre Beschwerden ernst zu nehmen, ohne ihnen Angst zu machen.»
Anfang Mai startete zwecks Wiedereingliederung ein therapeutischer Arbeitsversuch beim Arbeitgeber: zweieinhalb Stunden pro Tag, vorerst mit einfachen Arbeiten wie dem Öffnen der Post. Marcel R. wollte eigentlich mehr, um nicht zu weit weg vom Erwerbsleben zu geraten: «Doch nach zwei Stunden war ich total erschöpft.» Seit März besucht er die Post-Covid-Sprechstunde, die das Kantonsspital Winterthur (KSW) anbietet. Dort wird unter anderem an seiner Lungenfunktion gearbeitet, und er lernt, seine Kräfte einzuteilen.
Interdisziplinäre Behandlungen
Marcel R. ist einer von über 150 Patientinnen und Patienten, die in der Post-Covid-Sprechstunde des KSW schon behandelt wurden. Die Hauptsymptome sind laut Markus Hofer, Chefarzt für allgemeine Pneumologie und klinische Ethik, die Fatigue, wie die Müdigkeit genannt wird, dann Atemnot, Brain Fog (Benommenheit), kognitive Einschränkungen, Kopf- und muskuloskelettale Schmerzen. An der Behandlung sind mehrere Fachdisziplinen beteiligt, von der Medizin über die Physiotherapie bis zur Psychologie.
«Die Perspektive der Patientinnen und Patienten blieb bisher in den meisten Studien zu Long Covid weitgehend unbeachtet.»
Gesundheitliche Folgen viraler Infektionen seien an sich nichts Neues, stellt Pneumologe Hofer fest. Zu Post Covid gebe es allerdings erst wenig Daten, und diagnostisch sei bisweilen die Abgrenzung zu bereits bestehenden Erkrankungen schwierig: «Es gilt, die Patienten und ihre Beschwerden ernst zu nehmen, ohne ihnen Angst zu machen.» Die Mehrheit erhole sich gut, auch wenn sich manche Betroffene umorientierten und einen anderen Umgang mit ihrer Energie und mit Belastungen erlernen müssten. Etwa ein Prozent müsse gemäss aktuellem Forschungsstand «relevante längerfristige Einschränkungen» in Kauf nehmen.
Gesundheitskrise überwinden
Eine ZHAW-Studie im Auftrag des Kantonsspitals soll einen Beitrag zur optimalen Versorgung von Long-Covid-Betroffenen leisten. Dabei wird die Post-Covid-Sprechstunde des Spitals evaluiert und die Perspektive der Patientinnen und Patienten ins Zentrum gestellt, wie Markus Wirz, Studienleiter und Professor für Physiotherapieforschung, erklärt: «Diese Perspektive blieb bisher in den meisten Studien zu Long Covid weitgehend unbeachtet.» Die Forschenden befragen derzeit mittels Fragebogen fünfzig KSW-Patientinnen und -Patienten, zehn werden vertieft interviewt.
«Früher dachte ich auch, wer müde ist, soll sich halt zusammenreissen. Jetzt weiss ich, wie realitätsfern das in so einem Fall ist.»
Auch Marcel R. nimmt an der Studie teil. Dass Long Covid in der öffentlichen Diskussion zum Teil in Zweifel gezogen wird, stört ihn. Er räumt aber ein: «Früher dachte ich auch, wer müde ist, soll sich halt zusammenreissen.» Jetzt wisse er, wie realitätsfern das in so einem Fall sei. Er ist aber zuversichtlich, aus seiner Gesundheitskrise wieder herauszukommen. Man habe ihn darauf vorbereitet, dass Long Covid ein Jahr dauern könne, sagt er. «Ich freue mich über jeden kleinen Schritt, der wieder möglich wird.»
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