
«Menschen, die eine Chance bekommen, sind sehr loyale Mitarbeitende»
Kaum jemand arbeitet heute noch das Leben lang im gleichen Beruf. Eine Neuorientierung fällt jedoch vielen schwer, insbesondere wenn sie aus gesundheitlichen Gründen notwendig wird. Zwei Fachleute erzählen aus der Praxis.
In der Schweiz wechseln rund 15 Prozent der Angestellten pro Jahr ihre Stelle. Unbefriedigende Arbeitsbedingungen und der Wunsch nach Veränderung sind die häufigsten Gründe. Was sind die grössten Hindernisse, wenn sich jemand beruflich neu orientieren möchte?
Albrecht Konrad: Das ist je nach Branche unterschiedlich, aber in einigen sind die Anforderungen natürlich sehr hoch. Die Schweiz ist ein beliebtes Land, in dem viele qualifizierte Menschen aus aller Welt arbeiten wollen – die Konkurrenz ist sehr gross.
Ladina Schmidt: Viele Leute trauen es sich auch nicht zu, beruflich noch einmal einen neuen Weg einzuschlagen. Dazu kommt, dass wir in der Schweiz eher weniger bereit sind, den Wohnort zu wechseln oder auch Lohneinbussen in Kauf zu nehmen.
Unzufriedenheit am Arbeitsplatz ist sehr belastend für die psychische Gesundheit – was sich wiederum negativ auf die Produktivität auswirkt. Was müsste sich ändern, damit es einfacher wird, sich beruflich zu verändern?
Schmidt: Unternehmen könnten noch bessere Bedingungen dafür bieten, dass sich Arbeitnehmende intern verändern können, etwa die Abteilung wechseln, zwischen Führungs- und Nichtführungspositionen wechseln oder das Pensum je nach Lebenssituation anpassen. Für junge Leute wäre es wertvoll, wenn sie Einblicke in verschiedene Bereiche sammeln könnten, bevor sie sich festlegen.
Konrad: Unzufriedenheit entsteht oft durch unpassende Rahmenbedingungen. Ich erlebe es häufig, dass sich jemand beruflich verändern möchte, bei genauerer Analyse zeigt sich dann aber, dass die Person ihren Beruf eigentlich liebt, nur die Rahmenbedingungen der aktuellen Stelle nicht aushält. In solchen Situationen suche ich nach Lösungen in derselben Branche. Eine Pflegefachfrau kann beispielsweise auch in einem Altersheim arbeiten, wenn es ihr auf der Intensivpflegestation zu stressig ist.
Schmidt: Manchmal wird in der Beratung auch klar, dass die Unzufriedenheit nicht an der Arbeit per se liegt, sondern daran, dass auch in anderen Lebensbereichen viele herausfordernde Themen vorhanden sind und dass der Ausgleich fehlt.
Konrad: Im mittleren Alter lassen die Kräfte nach und man hat einfach nicht mehr die gleiche Energie wie früher. Viele geben dann dem Job allein die Schuld.
«Über psychische Gesundheit zu sprechen, ist zentral.»
Ist es heute einfacher, sich beruflich zu verändern als vor 20 Jahren?
Konrad: Ja und nein. Ja, weil es kein Tabu mehr ist; nein, weil die Bewerbungsverfahren immer anspruchsvoller werden. Die Schweiz ist ein Land der Zertifikate – ohne einen passenden Abschluss ist es schwierig, im Bewerbungsverfahren zu bestehen. Dazu kommen digitalisierte Bewerbungsverfahren, in denen Algorithmen Bewerbungen aussortieren, die nicht die richtigen Keywords beinhalten. Zudem verändern sich viele Berufe innerhalb weniger Jahre sehr. Wer nicht dranbleibt, verpasst mitunter den Anschluss.
Schmidt: Früher hat man kaum den Beruf gewechselt, dafür wurde der Mut vielleicht eher belohnt, wenn man quereinsteigen wollte. Heute muss man sehr hartnäckig sein und auch mal unkonventionelle Zugänge wählen.
Haben Sie ein Beispiel für unkonventionelle Zugänge?
Schmidt: Ich hatte einen Klienten, der unbedingt mehrsprachig tätig sein wollte, aber von grossen Unternehmen immer nur Absagen bekam. Als Kompromiss ging er dann zu einem Startup – dort war Motivation die wichtigste Anforderung. Der Lohn war tiefer, aber dafür gelang ihm der Einstieg in ein Umfeld, das ihm wirklich zusagte. Und mit dieser Erfahrung wird er bei der nächsten Jobsuche viel bessere Chancen haben, vielleicht auch bei einem grossen internationalen Unternehmen.
Sie beide beraten Personen, die aus gesundheitlichen Gründen ihren Job nicht wie bisher weiter ausführen können. Diese werden teilweise von der IV vermittelt. Sind das alles Personen, die umschulen müssen?
Konrad: Nein, aber es ist ein verbreiteter Irrglaube, dass Leute, die bei der IV sind, arbeitslos sind und ihren Beruf wechseln müssen. Es wird unterschieden zwischen Arbeitsplatzerhalt und Arbeitsplatzakquise. Im Idealfall wird möglichst früh mit allen Beteiligten nach einer Lösung im Unternehmen gesucht und nicht erst, wenn die Person ganz ausfällt. Arbeitgebende sind angehalten, bei der IV eine Früherfassung zu machen, wenn eine Angestellte oder ein Angestellter in einem Jahr mehr als sechs Wochen krank ist. Mit dieser Präventivmassnahme lassen sich grössere Krisen verhindern. Mit einer Frühintervention lassen sich einige Situationen entschärfen, etwa wenn eine Person auf ein Burnout hinsteuert, weil sie sich neben der Arbeit längerfristig um ihre kranke Mutter kümmert. Da könnte man zum Beispiel mit der Spitex eine Lösung finden. Ich komme erst ins Spiel, wenn es sich abzeichnet, dass sich etwas ändern muss und die Gesamtsituation einer komplexeren Lösung bedarf. Mittlerweile kommen Arbeitgeber auf mich zu, um unabhängig von der IV noch schneller eine Lösung zu finden – Stichwort Fachkräftemangel.
Wie läuft eine Beratung bei Ihnen ab?
Konrad: Als Ergotherapeut verfolge ich eine ganzheitliche Sichtweise, bei der Gesundheit, Arbeit, soziales Umfeld und individuelle Gegebenheiten erfasst und berücksichtigt werden. Meine Coachees haben zum Grossteil einen Arbeitsplatz und wollen den behalten. Dann schaue ich, welche Rahmenbedingungen notwendig sind, damit die Person im Unternehmen bleiben kann. Lässt sie sich zum Beispiel auch in einem anderen Bereich einsetzen? Gemeinsam mit dem Unternehmen und der Person erarbeite ich dann Lösungsstrategien.
Schmidt: In der Laufbahnberatung werden in einem Erstgespräch die Ausgangslage und die Erwartungen geklärt. Anschliessend stelle ich das mögliche Vorgehen vor und erkläre der Person, dass ich gerne den Rahmen anbiete, innerhalb dessen die Person für sich herausfinden kann, wer sie ist, was sie kann, welche Interessen sie leiten und wie sie ihren Zukunftsvisionen Schritt für Schritt näherkommen kann.
Konrad: Das ist sehr wichtig klarzustellen – ich hatte auch schon Klientinnen oder Klienten, die glaubten, ich würde ihnen verschiedene passgenaue Lösungen präsentieren und sie müssten nur noch eine davon auswählen. Job-Coaching bedeutet jedoch, gemeinsam und auf Augenhöhe passende Lösungen zu erarbeiten.
Wie geht man es an, wenn man nach einem gesundheitlich bedingten Ausfall wieder einsteigen möchte?
Schmidt: Als Erstes ist es wichtig, dass die Betroffenen wieder Boden unter den Füssen finden und Vertrauen in sich und die Zukunft aufbauen. In Krisen verliert man schnell den Zugang zu den eigenen Stärken und Ressourcen. Um wieder Selbstvertrauen zu gewinnen, hilft es, einer regelmässigen Aufgabe nachzugehen, eine Tagesstruktur zu haben, sich zu bewegen – ein Klient von mir hat zum Beispiel in einem Velo-Shop gearbeitet und kam so wieder zu Kräften.
«Diagnosen haben in einem Vorstellungsgespräch nichts zu suchen, ausser sie sind für die Tätigkeit relevant.»
Wie wird entschieden, ob eine Person etwa nach einem Burnout wieder bereit ist zu arbeiten?
Schmidt: Einerseits soll sie genug Zeit haben, um wieder gesund zu werden, andererseits wird es immer schwieriger, zurückzukommen, je länger man vom Arbeitsplatz weg ist. Die Entscheidung ist oft eine Gratwanderung und grundsätzlich Sache des behandelnden Arztes oder der Ärztin. Wenn die Person noch angestellt ist, ist es meist einfacher, Schritt für Schritt wieder einzusteigen. Ist sie dies nicht mehr, gibt es Angebote wie von der IV unterstützte Arbeitsversuche, bei denen man zu Beginn in einem Teilzeitpensum arbeitet und langsam aufbaut.
Konrad: Es ist in der Tat eine Frage der Abwägung. Zudem erschweren Sachzwänge, wie die Miete oder die Familie im Hintergrund, eine Entscheidungsfindung. Ich starte nur, wenn die Person sich dazu überwiegend bereit erklärt. Ein Wiedereinstieg gegen den Willen einer Person macht keinen Sinn, da müsste man als Erstes die Widerstände hinterfragen und sie sukzessive abbauen.
Herr Konrad, Sie begleiten Ihre Coachees im Bewerbungsprozess. Haben Sie ein grosses Arbeitgebernetzwerk?
Konrad: Nein, in der Form wäre das kaum möglich, denn ich coache ganz unterschiedliche Personen, von der Sekretärin über den Diätkoch bis zur Physikerin. Viele Leute glauben auch, dass ich geschützte Arbeitsplätze vermittle. Das stimmt aber nicht, ich begleite und unterstütze meine Coachees auf der Suche nach Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt.
Wo könnte man ansetzen, um mehr Personen nach einem gesundheitlichen Arbeitsunterbruch wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Konrad: Der Fachkräftemangel regelt diesbezüglich gerade einiges – immerhin ein positiver Aspekt.
Schmidt: Druck rausnehmen. Nicht nur bei der Wiedereingliederung, allgemein ist der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft sehr hoch. Es müsste in der Arbeitswelt anerkannt sein, dass es unterschiedliche Phasen gibt im Leben und dass man auch mal etwas kürzertreten darf, ohne die Chance zu verlieren, danach wieder mehr zu arbeiten oder zu führen. Insofern ist es zentral, dass unsere Gesellschaft offen über das Thema psychische Gesundheit spricht.
Konrad: Genau, und dass das Engagement für Integration und Inklusion belohnt wird. Im Kanton Zürich gibt es zum Beispiel den «This-Priis», einen Arbeitgeber-Award der Sozialversicherungsanstalt, der gelungene Integration von Menschen mit Behinderungen auszeichnet. Auserdem sollten die Anforderungsprofile für Arbeitnehmende realistischer sein. Wenn man Job-Anzeigen liest, wird ja oft die eierlegende Wollmilchsau gesucht. Der Bewerbungsprozess ist von beiden Seiten ein kleiner Heuchelprozess – man stellt sich im besten Licht dar. Mehr Offenheit würde helfen, zu erkennen, wie sich Unternehmen und Bewerbende ergänzen – auch bei den Defiziten oder speziellen Anforderungen.
Welchen Anreiz haben Arbeitgebende, eine Person einzustellen, die wegen einer psychischen Erkrankung ausgefallen ist?
Konrad: Es gibt Studien dazu, die besagen, dass Menschen, die eine Chance bekommen, sich beruflich wieder zu etablieren, sehr loyale Mitarbeitende sind. Und das deckt sich mit meiner Wahrnehmung. Gleichzeitig stärkt es die Identifizierung von anderen Mitarbeitenden mit dem Unternehmen, wenn sie wissen, dass dieses seine soziale Verantwortung wahrnimmt.
Schmidt: Genau, denn es spricht für ein Unternehmen, wenn es seine soziale Verantwortung wahrnimmt. Es kann auch eine Kultur von Offenheit und Vertrauen fördern und das Image als sozialer und moderner Arbeitgeber stärken. Zudem entwickeln Menschen in Krisen eine gewisse Resilienz sowie Empathie, Reflexionsfähigkeit und Stressbewältigungsstrategien.
Konrad: Es muss aber eine Win-win Situation sein, es bringt nichts, wenn das Unternehmen eine Person aus reinem Goodwill einstellt und diese dann immer das Gefühl haben muss, dass sie zu Dank verpflichtet ist.
Raten Sie Ihren Klient:innen, gegenüber potenziellen Arbeitgebenden sehr offen zu sein in Bezug auf psychische Erkrankungen, oder haben Sie mit Offenheit schlechte Erfahrungen gemacht?
Schmidt: Lügen bringt wenig, doch man muss ja nicht gleich alles auf den Tisch legen. Wichtig ist, sich nur auf Stellen zu bewerben, die man sich selbst zutraut, sonst ist es für beide Seiten nicht gewinnbringend.
Konrad: Meines Erachtens haben Diagnosen in einem Vorstellungsgespräch nichts zu suchen, ausser sie sind für die Tätigkeit relevant. Aber die Auswirkungen, die die Erkrankung auf einen hat, sollten thematisiert werden. Wenn man kompetent über seine Schwächen sprechen kann, hebt man sich von einem Grossteil der Mitbewerbenden ab. Wenn jemand zum Beispiel sagt: «Ich bin sehr begeisterungsfähig und loyal und habe früher zu wenig Nein gesagt, wenn Aufgaben verteilt wurden. Durch die Arbeit mit einer Psychologin sind mir meine Grenzen heute bewusst und ich weiss meine Kräfte besser einzuteilen», dann macht das auf Arbeitgebende einen guten Eindruck. Ich habe zum Beispiel mal einen jungen Mann im Bewerbungsprozess begleitet, der an einer Psychose litt. Er wollte das unbedingt verheimlichen. Dadurch war er aber sehr angespannt in den Gesprächen. Wir haben darauf geübt, wie er die Auswirkungen kommunizieren kann. Als er beim nächsten Gespräch sagte: «Es ist mir wichtig, dass ich genau weiss, was von mir erwartet wird, und dass ich immer die gleiche Ansprechperson habe, und Teamausflüge sind nicht so meine Welt», stellte sich heraus, dass das bei der Stelle kein Problem war – und er bekam den Job.
Über Ladina Schmidt und Albrecht Konrad
Ladina Schmidt ist Beraterin und Dozentin am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Nachdem sie in der Werbung und als Kommunikationsberaterin gearbeitet hatte, studierte sie mit 30 Jahren Psychologie. Anschliessend bildete sie sich im Bereich Organisationsentwicklung und Coaching weiter und spezialisierte sich auf Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung.
Albrecht Konrad ist Ergotherapeut, Jobcoach am Therapie-, Trainings- und Beratungszentrum Thetriz und Dozent im Studiengang Ergotherapie. Er berät Institutionen der Arbeitsrehabilitation und ist auch teilselbstständig als Jobcoach tätig, wobei er Klientinnen und Klienten bei der Stellensuche unterstützt oder dabei, ihren Arbeitsplatz zu behalten.
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