Jürg Rohrer, ZHAW

Netto-Null bis 2035 ist machbar und hat volkswirtschaftliche Vorteile

06.12.2022
4/2022

Das Schweizer Klimaziel «Netto-Null bis 2050» ist zu wenig ambitioniert. Es entspricht nicht dem im Klima-Vertrag von Paris vereinbarten Ziel, die globale Erwärmung, wenn immer möglich auf 1.5 Grad Celcius zu begrenzen.

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Kuchen zu verteilen. Alle greifen zu, die einen nehmen sich grosse Stücke, andere kleine. Wenn es um den Nachschlag geht, sichern sich dieselben Personen wieder die grössten Stücke. Ihr Urteil wäre eindeutig: Das ist unfair.

So ähnlich verhalten sich auch die Schweiz und andere Industrie­nationen beim Klimaschutz. Der Kuchen,  der dabei verteilt wird, ist das CO2-Budget, das ab 2020 noch ausgestossen werden darf, bis man schliesslich weltweit bei Netto-Null angelangt sein muss, um die Klimaerwärmung zu stoppen.

Eine Frage der Verteilung

Da die einzelnen Länder sowohl in absoluten Zahlen als auch pro Kopf gerechnet sehr unterschiedliche Mengen an Treibhausgasen ausstos­sen, stellt sich die Frage, wie das weltweite Budget «fair» auf einzelne Länder aufgeteilt werden soll. Erschwerend kommt hinzu, dass das ausgestossene CO2 mehrere 100 Jahre in der Atmosphäre erwärmend wirkt, sodass eigentlich auch die Emissionen in der Vergangenheit berücksichtigt werden müssten. Dann gäbe es aber gar kein Emissions-Budget mehr für die Schweiz.

Würde man das ab 2020 zur Verfügung stehende CO2-Budget pro Kopf auf die einzelnen Länder aufteilen, müsste die Schweiz Netto-Null bereits bis 2035 erreichen – also nicht erst 2050 wie vorgesehen –, vorausgesetzt, die Emissionen werden ab sofort und linear reduziert, wie wir in einer neuen Studie zeigen. Wenn alle Länder Netto-Null erst 2050 erreichen, würde das 1,5-Grad-Ziel jedoch verfehlt und man könnte lediglich eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,7 bis 2 Grad erreichen. Die Gefahr wäre dann sehr gross, dass nicht mehr umkehrbare Zustände – sogenannten Kipp-Punkte – erreicht werden.

«Die Gefahr wäre dann sehr gross, dass nicht mehr umkehrbare Zustände – sogenannten Kipp-Punkte – erreicht werden.»

Mit dem Netto-Null-Ziel bis 2050 nimmt die Schweiz für sich in Anspruch, dass ihr für die Zukunft ein grösseres CO2-Budget zur Verfügung steht als jenen Ländern, die bisher weniger emittiert haben. Denn diese müssten ihre vergleichsweise bescheideneren Emissionen ebenfalls bis 2050 auf null senken. Für Länder mit geringen Pro-Kopf-Emissionen stellt sich also die Frage der Fairness.  Denn die fossilen Ener­gien sind eine wichtige Basis  für den Wohlstand von Staaten wie der Schweiz.

Klimawandel stoppen, gelingt nur solidarisch

Wenn der Klimawandel gestoppt werden soll, dann geht das nur solidarisch. Auch wenn das beim jüngsten Klimagipfel in Ägypten nicht zum Ausdruck kam. Auf ein klares Bekenntnis, aus fossilen Energien auszusteigen, einigte sich die Weltgemeinschaft auch diesmal nicht. Stattdessen wurde ein neuer Hilfsfonds für klima­geschädigte arme Staaten beschlossen. Für diese ist das ohne Zweifel wichtig. Doch der Fonds ermöglicht lediglich Schadensbekämpfung. Mehr finanzielle Mittel für den Klimaschutz gibt es deshalb nicht. Umso mehr müssen Länder wie die Schweiz mit gutem Beispiel vorangehen. Das Gegenteil ist der Fall, wie der «Climate Change Performance Index» zeigt, der an der Klimakonferenz vorgestellt wurde. Die Schweiz fiel um 7 Ränge zurück auf Platz 22 – hinter Litauen, Ägypten und die EU. Der unabhängige Index, der seit 2005 jährlich veröffentlicht wird, macht transparent, wie es weltweit  um die Klimapolitik steht. Die traurige Wahrheit: Kein Land ist vorbildlich.

Kurswechsel würde sich lohnen

Will die Schweiz beim Klimaschutz wirklich ernst machen, muss das Energiesystem deutlich schneller dekarbonisiert werden. Frühere Studien haben gezeigt, dass dies bis 2035 nicht nur machbar ist, sondern sich volkswirtschaftlich sogar auszahlen würde. Selbstredend würde auch die Versorgungssicherheit steigen. Worauf warten wir also? Ein verbindliches Ausbauziel für Strom aus neuen erneuerbaren Ener­gien von 35 Terawattstunden bis 2035, wie es derzeit im Rahmen des Stromversorgungs- und Energiegesetzes diskutiert wird, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Um dies zu erreichen, muss jährlich drei Mal mehr erneuerbare Energie zugebaut werden als im Rekordjahr 2022. Es müssten zudem weitere Massnahmen, zum Beispiel zur Reduktion des Methanausstosses der Landwirtschaft und zum sparsamen Umgang mit Energie, erfolgen. Vor allem wäre aber eine Änderung des offiziellen Schweizer Ziels auf Netto -Null bereits bis im Jahr 2035 notwendig.

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