Neue App zur Entlastung betreuender Angehöriger
Einen dementen Menschen zu betreuen, ist eine Herausforderung – vor allem, wenn es ein Familienmitglied ist. Eine neue App will Angehörige dabei unterstützen und sie davor bewahren, selber krank zu werden.
Vera Bodmer betreut ihren Mann schon lange. Anfangs musste sie ihn nur an Termine erinnern. Unterdessen wäscht sie ihn, beantwortet immer wieder dieselben Fragen und lässt ihn kaum aus den Augen – damit er nicht den Herd anstellt und es gleich wieder vergisst. Vera Bodmer ist selber gestresst, hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie mal wegmuss, und fühlt sich oft einsam mit ihrem dementen Ehemann.
Vera Bodmer ist ein fiktives Beispiel, aber ein typisches. Laut einer Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit betreuen 600’000 Menschen in der Schweiz ihre Angehörigen. Oft sind es Frauen. Sind die kranken Personen älter, übernimmt fast immer die Partnerin oder der Partner die Betreuung.
Neuer Beruf, samt Belastungen
Vor allem bei dementen Personen sei es häufig, dass sich Partnerinnen und Partner dies alleine aufbürden, weil sie langsam hineingerutscht seien in diese Aufgabe, sagt Samuel Wehrli vom ZHAW-Institut für Computational Life Sciences, er leitet dort die Fachgruppe Biosignal Analysis and Digital Health: «Statt sich im Rentenalter mehr Ruhe zu gönnen, lernen die Ehepartner quasi einen neuen Beruf, mit allen Belastungen.» Weil die Betreuung ihres Partners etwas sehr Persönliches sei, scheuen sich auch viele davor, Hilfe anzunehmen, obwohl ihnen selbst ein freier Tag wieder einmal guttun würde.
Deshalb ist das Risiko pflegender Angehöriger erhöht, selber an einer Depression, einem Burnout oder anderweitig zu erkranken. Hinzu kommt die Gefahr, dass Angehörige aus Überforderung gewalttätig werden gegenüber den Kranken.
Keine Zeit, Informationen zu suchen
Hier wollen Samuel Wehrli und sein Team ansetzen. Denn Informationen und Hilfsangebote für betreuende Angehörige gibt es viele, aber sie zu den Betroffenen zu bringen, ist nicht leicht: «Die meisten sind dermassen eingespannt, dass sie nicht dazu kommen, die Webseiten, PDFs und Listen zusammenzusuchen, die verfügbar sind», sagt Wehrli.
«You + Care ist eine Art Coach im Handy-Format, schnell, kompakt und leicht zugänglich.»
Die Lösung ist eine Handy-Applikation. Sie heisst You + Care und fragt zuerst die Betreuungssituation ab. Darauf schlägt sie Informationen vor, etwa darüber, wie mit man mit einer Person kommunizieren kann, die ständig alles vergisst. Die App gibt auch konkrete Ratschläge. Beispielsweise empfiehlt sie mehr Selbstfürsorge, sich etwa eine Pause zu gönnen, oder gibt Ideen für den Alltag, wie das Zubereiten eines Lieblingsgerichts des Partners von früher.
Ein Coach im Handyformat
Wie bei einem Online-Filmverleih merke sich die App Präferenzen der Nutzer und welche Lernmodule bereits absolviert wurden, erklärt Samuel Wehrli. «Es ist eine Art Coach im Handy-Format, schnell, kompakt und leicht zugänglich.»
Die Entwicklung der App ist eine Kollaboration zwischen der ZHAW und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Neben Samuel Wehrli ist Barbara Baumeister Teil des Projektteams. Sie ist Gerontopsychologin und arbeitet am ZHAW-Departement für Soziale Arbeit. Für die ZHdK sorgen Jürgen Späth und Nadine Cocina als Interaction Designer dafür, dass die App für die Angehörigen bedarfsgerecht gestaltet ist. Schliesslich arbeitet das Projekt für Umsetzung, Betrieb und Verbreitung der App mit We+Tech und Pro Aidants zusammen, einem Verein, der sich für die Anliegen von Betreuenden einsetzt.
Gute Chancen zur Umsetzung
2023 endet das Projekt You + Care, das von der Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) finanziert wird. Derzeit testen Wehrli und sein Team mit Betroffenen verschiedene Prototypen der App. Zudem laufen Gespräche, damit die App ab 2024 umgesetzt werden kann. Es sehe gut aus, sagt Samuel Wehrli, dass bald Menschen wie Vera Bodmer zu Unterstützung und Entlastung kommen – unkompliziert und schnell per Handy-App.
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