Planetary Health – Folge 3: Allgemeine Geschäftsbedingungen des Planeten

20.06.2023
2/2023

Mit Urban-Farming-Projekten wird der Sehnsucht Rechnung getragen, die Kontrolle über die Produktion von Lebensmitteln zurückzugewinnen. In der Wahrnehmung vieler ist nichts wertvoller als das, was aus dem «eigenen Garten» stammt. Können die Auswirkungen menschlichen Handelns individuell erlebbar gemacht werden, entsteht vielleicht die Grundlage für ein verantwortlicheres Handeln als Erdbürgerinnen und Erdbürger.

Wenn wir auf diese Welt kommen, unterzeichnen wir keine Allgemeinen Geschäftsbedingungen, denen wir verpflichtet sind, und bekommen keine Gebrauchsanweisung zum ordnungsgemässen Verhalten einschliesslich des Verbrauchs von Umwelt. Vieles ist eine Frage der Umstände und der Sozialisierung. Durch gegenseitige Schuldzuweisungen, Verbote und Verzicht adäquates Handeln sicherstellen zu wollen, bleibt begrenzt wirkungsvoll. Wenn Konsumentinnen und Konsumenten zu Kundinnen und Kunden werden, steigt ihre Identifikation mit dem Produkt oder der Dienstleistung. Das Individuum als Teil der Gesellschaft gibt persönliche Rechte auf und erhält dafür Zugehörigkeit und Sicherheit. Was wäre, wenn wir dieses Konzept der Zugehörigkeit auf die Gesamtheit der Weltbevölkerung ausweiten und auf die Herausforderung der planetaren Gesundheit mit allen Lebewesen anwenden würden? Eine Vision, die sehr utopisch erscheint, gleichzeitig für das Überleben unser Spezies und damit vieler anderer Lebensformen aber wesentlich sein könnte.

Von der Vermessung zur Programmierung der Welt

Die als Chaos bezeichnete, unbeschreibliche Komplexität und Ordnungslosigkeit löst bei vielen Menschen ein Ohnmachtsgefühl aus. Der Versuch, diese Ohnmacht allein mit rationalen Verfahren zu überwinden, scheitert. Wissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere als isolierte Fakten betrachtet, haben überwiegend nur vorläufig Gültigkeit. Die Vermessung der Welt gipfelte in einer disziplinären Fragmentierung eines Descartes und der Taylorisierung der Produktionsprozesse in Form einer statischen Arbeitsteilung. Eine starke Reglementierung droht in Erstarrung zu enden. Durch automatisiertes Denken und die gezielte Betonung von scheinbar beobachteten Zusammenhängen entsteht eine Simulation, die Erkenntnisse ermöglicht und gleichzeitig begrenzt. Dieses Konstrukt bestimmt die Wirksamkeit. Gezielt von Meinungsmacherinnen und -machern an das Individuum gesendete Informationen sorgen dafür, dass erwartete Botschaften (ich will das hören, was in mein Weltbild passt) subtil verstärkt werden und das Denken und Handeln durch soziale Medien programmiert wird. Kritisches Denken und Reflexion werden dabei bedroht, da für die erwünschte Meinung viele Fakten generiert werden, die Resonanz erzeugen und Positionen verteidigen. 

 Wo der Mensch sich auf den Weg gemacht hat, durch Künstliche Intelligenz selbst zum Schöpfer zu werden und den Zweifel über die Anwendung von Regelwerken abzuschaffen, triumphieren Individualität, Einzigartigkeit und Selbstbestimmung, oder es besteht die Gefahr, dass die Maschinen die Kontrolle übernehmen und wir in einer Dystopie enden. Eine Utopie hingegen kann sich auf der Grundlage der Überwindung der Definitionsmacht von Hierarchien, die von Unterwürfigkeit, Hörigkeit und Ritualismus geprägt waren, entfalten. 

Bewusstsein setzt das Gewahrwerden von Zusammenhängen voraus

Die Komplexität von biologischen Systemen war immer vorhanden. Menschen versuchen diese Zusammenhänge zu dekonstruieren. Dabei besteht die Gefahr, den Blick fürs Ganze zu verlieren. Zusammenhänge aufzuspüren, diese zu beobachten, zu beschreiben und zu prüfen und in den Gesamtkontext zu stellen, ist die Herausforderung unserer Zeit. Dennoch ist der Weg, das Ganze zu respektieren und einzubeziehen, vielleicht die letzte Chance der Postmoderne, die Herausforderungen besser zu verstehen, umzukehren und wo möglich zu regenerieren. Die Wahrnehmung des grossen Ganzen ist Voraussetzung, um als Teil davon Verantwortung zu übernehmen.

Von Macherinnen und Machern zu Erdbürgern und Erdbürgerinnen

Der Aufbau von Wertschöpfungsnetzwerken mit diversen und inklusiven Beschaffungs- und Verarbeitungsstrukturen fördert Transparenz, erzeugt Resilienz und bildet so die Grundlage, um Vertrauen zurückzugewinnen. 

Die Verlagerung der Lebensmittelherstellung von der Produktion zum Konsum sowie ihre Reintegration in Form eines Prosumenten, die zunehmende Gentrifizierung, die Rolle des Tourismus und der digitalen sowie medialen Vernetzung sind wesentliche Faktoren bei der Schaffung von Wertschöpfungsnetzwerken. 

Konsumenten erfahren und erkennen zunehmend durch eigene Herstellung von Lebensmitteln die Zusammenhänge biologischer Systeme. Wie es sich bei der Renaissance der Strategien zur Haltbarmachung durch Fermentation zeigt. Sie werden so zu Gestalterinnen und Gestaltern in den Wertschöpfungsnetzwerken. Diese Macherinnen-und-Macher-Bewegung sammelt Erfahrungen und baut Kompetenzen auf, um Lebensmittel selbst herstellen und Konsumentscheidungen qualifiziert treffen zu können. Damit verbunden ist das Interesse, die Herstellung von Lebensmitteln besser zu verstehen und die oft oberflächlichen Markenbotschaften zu hinterfragen. Der produzierende, informierte Konsument wird so zum kundigen Prosumenten. 

Sehnsucht nach dem eigenen Garten

Mit der Rückkehr von Quartiergärten in Städten und Urban-Farming-Projekten wird der Sehnsucht Rechnung getragen, die Kontrolle über die Produktion von Lebensmitteln zurückzugewinnen, denn in der Wahrnehmung vieler ist nichts wertvoller als das, was aus dem «eigenen Garten» stammt. Regionalität und Saisonalität sind neben ethischen Anforderungen an Lebensmittel zu einem sehr wichtigen Kriterium geworden. Dort, wo die Prosumentinnen und Prosumenten nicht direkt beteiligt sind oder hinschauen können, erwarten sie belastbare Informationen. Können der Horizont erweitert und die Auswirkungen menschlichen Handelns individuell erlebbar gemacht werden, entsteht vielleicht die Grundlage für ein verantwortlicheres Handeln als Erdbürgerinnen und Erdbürger.

Geteilte Verantwortung für vertrauensvolle Lebensmittel

Das Problem wächst, solange wir anderen die Verantwortung und damit die Schuld für negative Effekte der Produktion von Lebensmitteln zuschreiben. Umwelt und Biodiversität sollten als unveräusserbares Gemeineigentum betrachtet werden, denn was niemandem gehört, hat keinen Wert, und was verkauft werden kann, unterliegt den Kräften des Marktes. Das Leben auf unserem Planeten sollte dem nicht ausgeliefert sein. Der Handel mit Umweltzertifikaten zeigt, wie dysfunktional sich der Tausch anonymisierter, nicht direkt einzelnen Produkten oder Herstellungsschritten zuzuordnender Emissionsmengen auswirkt. Verantwortung könnte wirken, wenn wir damit aufhören, diese zu delegieren und durch monetäre Transferleistungen abzugelten. Wirksamer und sinnvoller wäre es, Verantwortung zu teilen und diese im Sinne von möglichst vielen wahrzunehmen. 

Die Möglichkeit, Schuld durch Verantwortung zu ersetzen, besteht nur, falls wir es schaffen, Transparenz in einem Wertschöpfungsnetzwerk zu erzeugen. Lebensmittel verantwortungsvoll für Mensch und Umwelt zu produzieren, ist nur möglich, wenn die bereits belasteten oder gar zerstörten Systeme regeneriert werden. In der Landwirtschaft existieren bereits entsprechende Bemühungen, um klimawirksame Faktoren zu vermeiden oder zu binden und Massnahmen zum kontrollierten Umgang mit Wasser und zur Erhöhung der Biodiversität zu treffen. Stoffkreisläufe müssen untersucht und verstanden werden, bevor eine nachhaltige Regeneration erfolgen kann. So wirkungsvoll global angelegte Initiativen sein mögen, regenerative Aktivitäten müssen auch lokal beginnen und schrittweise Wirkung erzeugen.

Den Fokus zu eng auf den Bereich der Urproduktion zu richten, ist verfehlt. Regenerative Konzepte zur Verarbeitung und Herstellung von Lebensmitteln müssen dezentral gefunden und im Sinne von Netzwerken umgesetzt werden.

Zu den Schreibenden

Das Unerwartete denken und schreiben ist das Motto von Gisela und Tilo Hühn. Gemeinsam verantwortungsvoll handeln, reflektieren und etwas bewirken sind die Eckpfeiler ihres Lebenskonzepts. Die beiden arbeiten als Forschende und Dozierende an der ZHAW: Gisela Hühn in der Forschungsgruppe für Lebensmittel-Prozessentwicklung, Tilo Hühn als Leiter des Zentrums für Lebensmittelkomposition und -prozessdesign. Ob an der Hochschule oder am Küchentisch: Beide diskutieren und arbeiten gerne – zu zweit oder mit anderen – zu zukünftigen Ernährungssystemen sowie zu der Frage, wie man bei der Verarbeitung mehr vom Guten aus Agrarprodukten erhält.

Die «Impact»-Serie Planetary Health im Webmagazin

Ist unser Planet noch zu retten? Und wenn ja, wie? Um diese Fragen geht es in der neuen Serie «Planetary Health» des «Impact»-Webmagazins der ZHAW. Die Serie ist noch nicht fertig konzipiert, sondern kann sich, liebe Leserinnen und Leser, auch aus Ihren Anregungen und Wünschen weiterentwickeln. Die ZHAW-Forschenden Gisela und Tilo Hühn erklären in den ersten Folgen, wie wir mit Essen die Welt retten können. Schonkost kredenzen die beiden Forschenden nicht. Vielmehr tischen sie offen auf, woran unser Ernährungssystem krankt und welche negativen Einflüsse es auf die Umwelt hat. Garantierte Rezepte zur Genesung gibt es hier keine, sondern Gehirnfutter zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren. Denn: «Die Schlacht zur Rettung des Planeten wird auf dem Teller gewonnen.» Bis zum wohlverdienten Dessert ist es noch weit.

Wir freuen uns über Ideen und Anregungen gleich unten bei den Kommentaren

PATRICIA FALLER, CHEFREDAKTORIN

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