Professionelle Pflege: Damit Alltag gelingt
Ob Krankheit, Unfall oder Lebenskrise – plötzlich gerät alles aus den Fugen. Gewohnte Abläufe sind nicht mehr möglich. Professionelle Pflege unterstützt Menschen bei einer neuen Normalität im Alltag.
Die junge Akademikerin und Mutter, die unerwartet eine Multiple-Sklerose-Diagnose erhält. Der ältere Witwer, der stürzt und mit Verletzungen ins Spital muss. Die alkoholabhängige Coiffeuse, die daheim zu verwahrlosen droht. Der Lehrling, wie gelähmt durch Depression und Antriebslosigkeit. Die Rentnerin, die erfährt, dass sie an einer Herzschwäche leidet. Oder der Mittfünfziger mit chronischer Lungenkrankheit. Sie alle haben etwas gemeinsam: Auf einmal ist vieles nicht mehr so wie vorher. «Krankheiten bedeuten Einschnitte, ja Brüche im Leben», sagt die promovierte Pflegewissenschaftlerin Katharina Fierz, Leiterin des Instituts für Pflege der ZHAW. Das gelte sowohl für akute wie auch für chronische Leiden, für körperliche genauso wie für psychische Erkrankungen.
Trauma erkennen oder Stolperfallen beseitigen
Manchmal sind die Veränderungen offensichtlich, etwa wenn ein Diabetiker regelmässig Insulin spritzen muss. In anderen Fällen seien die Folgen weniger augenfällig, weiss die Wissenschaftlerin. Manche Menschen entwickelten beispielsweise nach Operationen am Kopf eine posttraumatische Belastungsstörung, auch wenn der Eingriff erfolgreich war. Oder jemand kehre nach einer wahnhaften Störung aus der Klinik nach Hause zurück, sei soweit stabil – doch die Erschütterung darüber, dass einem die Wirklichkeit abhandengekommen war, halte an. Und beim alten Menschen, der das Spital mit geflicktem Oberschenkelhals verlässt, setze sich eventuell das Sturzrisiko wegen Stolperfallen in der Wohnung fort.
Übers Krankenbett hinaus
Solchen Unterstützungsbedarf zu erkennen, zu erfassen und – in Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen – die nötigen Interventionen einzuleiten, sei eine grundlegende Aufgabe professioneller Pflege, unterstreicht Katharina Fierz. Sie sagt: «Pflege hilft den Menschen über das akute Ereignis hinaus, mit einer Erkrankung und deren Auswirkungen zurechtzukommen.» Denn Pflegefachpersonen würden nicht nur für die Pflege am Krankenbett ausgebildet, sie nähmen eine Gesamtsicht ein. Pflege betrachte den ganzen Menschen, die Gefühle, das Umfeld, den Alltag. Sie sei bestrebt, Gesundheit aufrechtzuerhalten und Schäden vorzubeugen.
«Pflege hilft den Menschen über das akute Ereignis hinaus, mit einer Erkrankung und deren Auswirkungen zurechtzukommen.»
Oft gehe es darum, Menschen zu befähigen, mit krankheitsbedingten Einschränkungen leben zu lernen, so die ZHAW-Institutsleiterin. Pflegefachpersonen schulten Betroffene darin. Um verstanden zu werden, wüssten sie ihre Ausdrucksweise dem Gegenüber anzupassen. Dem Rheuma-Patienten etwa wird der Gebrauch eines Hilfsmittels gezeigt. Und die Patientin mit Herzinsuffizienz erfährt, dass sie auf Alarmzeichen achten kann, indem sie eine Gewichtskontrolle führt. Solche Massnahmen trügen dazu bei, Rehospitalisierungen und damit Mehrkosten zu verhindern, hält die Pflegewissenschaftlerin fest.
«Ohren zum Zuhören, Mund für Gespräche»
Was alltagsbezogene pflegerische Unterstützung in der Grundversorgung bedeutet, weiss Esther Indermaur von der Fachstelle für psychosoziale Pflege und Betreuung bei Spitex Zürich Limmat. Die Pflegeexpertin APN (Advanced Practice Nurse) geht zu Leuten nach Hause, für die der ganz normale Alltag schier unüberwindlich geworden ist. Die Fachstelle betreut jährlich rund 900 Personen in Situationen, die sich nachweislich durch psychiatrische Pflege beeinflussen lassen. «Zu unseren Klientinnen und Klienten gehören Menschen, die einsam sind, weil sie es nicht schaffen, soziale Kontakte aufzubauen», führt die Fachfrau aus, «oder auch Menschen ohne Tagesstruktur, die sich zu nichts mehr aufraffen können und denen es nicht mehr gelingt, den Alltag subjektiv sinnhaft zu gestalten.»
Einsam oder ohne Tagesstruktur
Bei der Hälfte sei eine psychische Erkrankung diagnostiziert, andere hätten psychische Probleme wegen einer körperlichen Krankheit oder seien durch ein Lebensereignis aus der Bahn geworfen worden. Esther Indermaur sagt: «Wir lernen die Menschen vor Ort in ihrer Lebenswelt kennen und eruieren gemeinsam mit ihnen, wo genau die Probleme im Alltag liegen, wie sie sich angehen lassen, aber auch, was gut läuft und worauf wir aufbauen können.» Dabei lässt die Pflegeexpertin die zum Teil perspektivlosen Menschen auch mal von ihren Zukunftsträumen erzählen. Gemeinsam würden Ziele gesetzt, dann werde geschaut, wie sich diese – meist in kleinen Schritten – erreichen lassen. Zentral sei die vertrauensvolle Beziehung. Und: «Unsere Ohren zum Zuhören und unser Mund für Gespräche sind weitere Hauptinstrumente der Psychiatriepflege.»
«Wenn mir jemand sagt, er fühle sich im Chaos wohl, kann ich das gut stehen lassen, solange es wenig Auswirkungen hat.»
Die Betreuung dauert unterschiedlich lange, zwischen einigen Wochen und mehreren Jahren. Die Menschen sollen einen möglichst selbstbestimmten Alltag zurückgewinnen, deshalb fördert die Pflegeexpertin ihr Selbstmanagement. Das ist mitunter vertrackt, besonders wenn jemand objektiv Unterstützung braucht, dies selber aber nicht so sieht. Indermaur nennt das Beispiel eines häuslich sehr desorganisierten Klienten, umgangssprachlich «Messie» genannt: «Wenn er mir sagt, er fühle sich wohl so, kann ich das gut stehen lassen, solange es wenig Auswirkungen hat.» Führe die Unordnung jedoch zu Stürzen oder gefährde die Verunreinigung die Gesundheit, sei es Zeit, das Thema anzugehen. In einigen Fällen arbeitet Indermaur mit dem stadtärztlichen Dienst oder der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB zusammen. Denn manchmal sei bei Klienten die Krankheitslast zu gross, um Hilfe annehmen zu können.
Vorstellungen von Normalität differieren
Fest steht: Vorstellungen von Normalität können differieren, doch gut ausgebildete und zufriedene Pflegefachpersonen wüssten damit umzugehen, sagt die Spitex-Pflegefachfrau. Das Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Autonomie werde im Team diskutiert. Auch Pflegewissenschaftlerin Katharina Fierz betont: «Normalität ist nicht normativ zu verstehen. Sie ist individuell und kann sich verändern.» Wenn krankheitsbedingte Verlusterfahrungen im Widerspruch zu gesellschaftlich positiv besetzter Leistungsfähigkeit und Fitness stünden, sei das oft nicht einfach zu akzeptieren. Professionelle Pflege motiviere Betroffene, den Blick nicht nur auf die Defizite, sondern auch auf die vorhandenen Ressourcen zu richten.
«Eine eigenverantwortliche Pflege hätte der Gesellschaft sehr viel zu bieten.»
Dass Pflegefachpersonen Spezialistinnen und Spezialisten für den Alltag mit und trotz Krankheit sind, komme im Schweizer Gesundheitswesen nicht genug zum Tragen, stellt Fierz fest. Sie weist auf die Rolle der Pflegeexpertinnen APN hin, der Pflegefachpersonen mit Masterabschluss also. Diese können als sogenannte «Nurse Practitioners» chronisch Kranke eigenständig beraten und kontinuierlich betreuen. Alles im Rahmen eines Handlungsspielraumes, der mit der ärztlichen Kollegin, dem ärztlichen Kollegen festgelegt wird. Das innovative Modell wird in der Schweiz erst an wenigen Orten umgesetzt, auch weil die Pflege von Gesetzes wegen immer noch eine ärztliche Anordnung braucht. Dabei wachse die Zahl der Älteren, und chronische Erkrankungen nähmen zu, sagt die Wissenschaftlerin: «Eine eigenverantwortliche Pflege hätte der Gesellschaft sehr viel zu bieten.»
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