
Raus aus dem Gefängnis, rein in die Unsicherheit
Ein Gefängnisaufenthalt ist eine Zäsur im Leben eines Menschen. Nach der Entlassung ist häufig eine Neuorientierung nötig. Was sind die grössten Herausforderungen dabei? Und was macht einen Neuanfang nach einer Haftstrafe einfacher?
Es ist ein Abend im Spätherbst, als Marko einen verhängnisvollen Entscheid trifft. Der 32-Jährige ist zu diesem Zeitpunkt arbeitslos und konsumiert regelmässig Kokain sowie Amphetamine. An jenem Abend entscheidet er sich, gemeinsam mit seinem Freund Boris bei einem Dealer Kokain zu besorgen. Als dieser die beiden nicht in die Wohnung lässt, eskaliert die Situation – und während Marko den Dealer festhält, stösst ihm Boris ein Messer ins Bein. Die beiden fliehen mit 1500 Franken Bargeld, Kokain und Amphetaminen. Marko wird gefasst und zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Er verbringt fast zweieinhalb Jahre im geschlossenen Vollzug, dann wird er bedingt entlassen. Doch draussen steht er vor dem Nichts: Marko hat keine Wohnung, keine Freunde mehr. Der Kontakt zu seinem Bruder, seinen einzigen Angehörigen, ist abgebrochen. Und er hat nach wie vor keine Arbeit.
Markos Name ist erfunden, seine Geschichte aber wahr. Und so wie ihm geht es vielen ehemalig inhaftierten Personen in der Schweiz: Sie müssen sich nach der Entlassung aus dem Gefängnis neu orientieren. Freunde und Familie haben sich womöglich abgewendet, das Geld ist knapp, die Wohnung ist weg, die gesellschaftliche Stigmatisierung gross. Hier kommt in vielen Fällen die Bewährungshilfe und damit die Soziale Arbeit ins Spiel: Sie unterstützt straffällig gewordene Personen dabei, nicht mehr rückfällig zu werden, und sich wieder in der Gesellschaft zu integrieren – idealerweise schon während der Zeit im Vollzug, damit die Neuorientierung nach der Entlassung Schritt für Schritt gelingen kann.
«Damit ein Neuanfang gelingt, muss die Person ‹gute Gründe› finden, kein Delikt mehr zu begehen.»
Grosse Herausforderungen
ZHAW-Dozent Pawel Pomes ist Experte für Bewährungshilfe. Der Psychologe hat mehrere Jahre für die Bewährungs- und Vollzugsdienste des Kantons Zürich gearbeitet und forscht und lehrt seit 2022 am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention des Departements Soziale Arbeit. «Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Herausforderungen für ehemalig inhaftierte Personen, wieder ins Leben einzusteigen, meist sehr hoch sind», sagt Pomes. «Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass es aus Sicht des oder der ehemaligen inhaftierten Person häufig einen ‹guten Grund› – also eine subjektiv nachvollziehbare Motivation – gab, um das Delikt zu begehen. Damit ein Neuanfang gelingt, muss die Person nun erst einmal ‹gute Gründe› finden, kein Delikt mehr zu begehen.» Im Justizvollzug und der Bewährungshilfe wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass menschliches Verhalten veränderbar ist. Folglich wird laut Pomes versucht, das Veränderungspotenzial der Klientinnen und Klienten zu aktivieren. Das heisst konkreter: «Bei jeder Person wird eine individuelle Bedarfsanalyse durchgeführt und gemeinsam ergründet, was getan werden muss, damit es nicht mehr zu delinquentem Verhalten kommt – was ja überhaupt erst die Voraussetzung für einen Neuanfang ist.»
Der Fokus in der Bewährungshilfe liegt dabei unter anderem auf acht Faktoren, die gemäss Wissenschaft eng mit dem Rückfallrisiko zusammenhängen und damit wesentliche Hürden für eine erfolgreiche Wiedereingliederung darstellen, wenn sie unbeachtet bleiben: die sogenannten «Central Eight». Neben einer kriminellen Vorbelastung sind dies eine prokriminelle Einstellung – also eine Haltung, die Straftaten verharmlost oder rechtfertigt –, ein prokriminelles Umfeld, unzureichende Freizeitaktivitäten, Substanzkonsum, antisoziale Persönlichkeitszüge und wenig soziale Bindungen, weder zur Familie noch im Arbeitsumfeld. «Die Bewährungshilfe arbeitet dann mit den Klientinnen und Klienten an den individuell relevanten Punkten und entwickelt Strategien, um Risiken zu minimieren.»
Im Fall von Marko fokussierte der Bewährungshelfer unter anderem auf dessen prokriminelle Haltung und das prokriminelle Umfeld. Das heisst: In Gesprächen wurden Strategien besprochen für den Fall, dass Marko in Versuchung geraten würde, sich strafbar zu machen. Der Bewährungshelfer erstellte und erprobte mit ihm einen Handlungsplan mit individuellen Notfallstrategien in Form sogenannter «Wenn-Dann-Regeln», zum Beispiel: Wenn ich merke, dass ich wütend werde, dann mache ich zehn Liegestützen. Oder: Wenn ich merke, dass ich Lust auf Kokain bekomme, gehe ich eine Runde im Wald spazieren. Zudem unterstützte er Marko darin, wieder den Kontakt zu seinem Bruder aufzunehmen, der sich nicht in kriminellen Kreisen bewegt.
Dauerhaft aus der Kriminalität finden
Es gibt laut Pawel Pomes auch Faktoren, die einen Neuanfang begünstigen. Diese hat die «Desistance»-Forschung hervorgebracht, die sich damit beschäftigt, wie und warum Menschen aufhören, Straftaten zu begehen. «Damit jemand nicht mehr kriminell wird, müssen verschiedene Gegebenheiten zusammenkommen», erklärt Pomes. Oft spielen dabei einschneidende Lebensereignisse eine Rolle, etwa die Geburt eines Kindes. «Solche Erfahrungen können dazu beitragen, dass man auf seine neue Rolle fokussiert und folglich auch seine Identität verändert: Man nimmt sich dann nicht mehr als jemanden wahr, der mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, sondern vor allem als Vater.» Diese Identitätsveränderung könne im Zusammenspiel mit idealen strukturellen Gegebenheiten – etwa einer finanziellen Absicherung durch eine neue Arbeitsstelle oder einem Umfeld, das eine zweite Chance gibt und die neue Rolle unterstützt – dazu führen, dass jemand dauerhaft aus der Kriminalität findet.
Die Beziehung zwischen Sozialarbeitenden und Klient:innen sollte von Transparenz, Neutralität, Mitsprache und Vertrauen geprägt sein.»
Umgang mit schweren Delikten, Widerstand und Misstrauen
Genau so, wie die Bewährungszeit eine Herausforderung für ehemalig inhaftierte Personen ist, so ist das Berufsfeld für Sozialarbeitende ein herausforderndes. Das beginnt laut Pomes bei den schweren und belastenden Delikten, mit denen die Fachpersonen konfrontiert sein können. «Eine gute Psychohygiene ist hier wichtig. Ebenfalls muss es den Sozialarbeitenden gelingen, die Person nicht auf das Delikt zu reduzieren und ihr mit Respekt zu begegnen.» Weiter sind Mitarbeitende in der Bewährungshilfe häufig mit starkem Widerstand konfrontiert, mit Misstrauen und fehlender Problemeinsicht der Klientinnen und Klienten. «Es ist daher zentral, dass genügend Zeit in den Aufbau einer guten Arbeitsbeziehung investiert wird. Sie sollte von Transparenz, Neutralität, Mitsprache und Vertrauen geprägt sein – denn eine solche Beziehung ist in den allermeisten Fällen eine Grundvoraussetzung für eine gelungene Bewährungshilfe», sagt Pomes.
Bei Marko sieht es am Ende der Bewährungszeit aus, als wäre der Neuanfang gelungen. Ein gutes halbes Jahr nach der Haftentlassung wohnt er wieder in einer eigenen Wohnung. Er hat mit Unterstützung des Bewährungshelfers eine Festanstellung bei einem Zügelunternehmen gefunden, konnte sich dadurch von der Sozialhilfe loslösen und einen kleinen – nicht kriminellen – Freundeskreis aufbauen. Zudem pflegt Marko den Kontakt zu seinem Bruder intensiv und konsumiert keine Drogen mehr. Straffällig ist er nicht mehr geworden.
Wie begegnet man Menschen, die schwere Straftaten begingen?
In der Episode «Herausforderung Rückfallprävention» des Podcasts «sozial» sprechen Host Menno Labruyère und sein Gast Klaus Mayer, Psychotherapeut und Dozent an der ZHAW, über rückfallpräventive Soziale Arbeit im Strafvollzug. Mayer erzählt von seinen Erfahrungen in der Psychiatrie und Justiz, wo er rückfallpräventive Trainingsprogramme entwickelte und was er von den Adressat:innen lernen konnte. Er erklärt, wie wichtig Empathie und Verständnis im Umgang mit straffälligen Personen sind und wie man durch persönliche Gespräche und gezielte Massnahmen Wiederholungstaten vorbeugen kann.
Aufmacherbild: Adobestock/Adsloboda
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