Risikoabschätzung: Wie ein Blick in die Glaskugel
Kann man Pandemien und Kriege voraussagen? Nein, sagt der ZHAW-Datenwissenschaftler Pasquale Cirillo. Er kennt die Fehler und Fallen jener, die nicht von Prognosen lassen können. Und weiss, was die Daten dennoch preisgeben.
Nicht nur das Virus verbreitete sich am Anfang der Corona-Krise in schwindelerregendem Tempo. Bald konnten sich die Menschen auch vor Grafiken und Tabellen kaum mehr retten. «Es war amüsant, aber auch ein wenig unheimlich zu sehen, wie auf einmal alle den Verlauf der Pandemie voraussagten», erzählt Pasquale Cirillo, Professor für Datenwissenschaft an der ZHAW. Fast schien es, als sei der Welt über Nacht ein Heer von selbst ernannten Statistikexpertinnen und Statistikexperten entwachsen, deren Fähigkeitsausweis in erster Linie darin bestand, schon einmal mit Excel gearbeitet zu haben.
«Man kann individuelle Risiken nicht mit systemischen Gefahren gleichsetzen.»
Der Wildwuchs an Prognosen liess sich laut dem Forscher zwei Kategorien zuordnen. In der einen spielte man das Risiko von Beginn weg herunter: Covid, hiess es da gerne, verlaufe auch nicht gravierender als irgendeine Grippe, und die Wahrscheinlichkeit, am Virus zu sterben, sei geringer, als wenn man von einer Leiter falle. Problematisch an solchen Vergleichen ist: «Man kann individuelle Risiken nicht mit systemischen Gefahren gleichsetzen.» Das macht ein Beispiel deutlich: Wird die Frau vor mir an der Migros-Kasse übermorgen von einem Hai gefressen, ist das furchtbar für sie, an meinem Leben ändert es nichts. Trägt sie einen hochansteckenden Krankheitserreger in sich, sind die Konsequenzen für mich und alle anderen in der Schlange im Supermarkt kaum abzuschätzen. Der andern Kategorie reichte die dürre Datenbasis dagegen aus, um sich geradewegs zur Apokalypse hochzurechnen. Es werde nur wenige Wochen dauern, befand man, bis sich die gesamte Weltbevölkerung mit dem Virus angesteckt habe.
Wünsche gehören nicht in die Statistik
«Wer seriöse Wissenschaft betreibt, erstellt keine Punktprognosen», sagt Cirillo, dessen Spezialgebiet die Forschung zu extrem seltenen Ereignissen mit enormen Auswirkungen ist. Wann sie auftreten und wie sie verlaufen, lässt sich per definitionem schwer fassen. «Gerade in einer Krise möchte das aber niemand so hören.» Früh in der Pandemie seien Expertinnen und Experten deshalb unter immensem Druck gestanden, möglichst rasch und präzise Empfehlungen abzugeben. Dass sich auch Fachleute unsicher und uneinig sein können, wollte man nicht wahrhaben.
Pandemien sind unberechenbare Phänomene. Sie haben in den vergangenen Jahrtausenden immer wieder Millionen von Menschen das Leben gekostet, und doch: «In den allermeisten Fällen haben wir Glück und eine Infektionskette reisst ab, lange bevor sie zur weltweiten Krise wird», so der Wissenschaftler am Institut für Wirtschaftsinformatik der ZHAW.
«Es gibt aus statistischer Sicht leider keinerlei Anzeichen, dass wir weniger zur Gewalt neigten als früher und Kriege unwahrscheinlicher geworden sind.»
Zu den seltenen Ereignissen, die die Welt auf lange Zeit hinaus erschüttern und sich doch der Prognose entziehen, gehört auch der Krieg. Wie viele von uns haben bis vor Kurzem aufrichtig geglaubt, dass der Einsatz von Bomben und Panzern der Vergangenheit angehört, wenigstens in Europa, dass man Konflikte zwischen Ländern heute am Verhandlungstisch löst, dass wir vielleicht sogar grundsätzlich zu besseren Menschen geworden sind? «Natürlich wünschte ich mir das alles auch», unterstreicht der Wissenschaftler. Doch gebe es aus statistischer Sicht leider keinerlei Anzeichen, dass wir weniger zur Gewalt neigten als früher und Kriege unwahrscheinlicher geworden seien. «Wir dürfen uns weder von Hoffnungen noch Ängsten leiten lassen, wenn wir Daten analysieren.»
Mit Nassim Nicholas Taleb 2000 Jahre zurückgeblickt
Gemeinsam mit Nassim Nicholas Taleb, Risiko- und Zufallsforscher und Autor des internationalen Sachbuchbestsellers «Der Schwarze Schwan», hat Cirillo kürzlich die grossen Auseinandersetzungen der letzten zweitausend Jahre zusammengetragen und untersucht. Lange Perioden des Friedens seien auch in der Vergangenheit keine Seltenheit gewesen, stellten die Forscher in ihrer Studie fest, man denke etwa an die Pax Romana oder Pax Britannica. «Zwischen zwei Kriegen können zweihundert oder sogar dreihundert Jahre vergehen.» Dass wir in Europa seit siebzig Jahren keinen bewaffneten Konflikt mehr erlebt hätten – wobei auch das nicht ganz korrekt sei, wendet Cirillo ein, schliesslich wütete der Jugoslawienkrieg zu Beginn der neunziger Jahre quasi vor unserer Haustüre –, mag uns vorkommen wie eine Ewigkeit. Es ist nicht so.
«Wer seriöse Wissenschaft betreibt, erstellt keine Punktprognosen.»
«Ich kann nicht voraussagen, wann die nächste Krise kommt», resümiert Cirillo. «Was ich aber weiss: Sie kommt bestimmt.» Und noch etwas wissen Risikoexperten wie er: So selten solche Ereignisse auch auftreten, so oft weisen sie doch erstaunlich stabile Eigenschaften auf. Künftige Kriege und Pandemien dürften nicht fundamental anders beschaffen sein als die, die ihnen vorausgegangen sind. Oder wie es der italienische Wissenschaftler in einer anderen Studie auf den Punkt bringt: Wenn ein Komet geradewegs auf die Erde zusteuere, sollten wir nicht erst den Einschlag abwarten mit der Begründung, über dieses konkrete Exemplar noch mehr in Erfahrung bringen zu wollen. Genau dies sei zu Beginn der Pandemie jedoch geschehen: Vielerorts wurde dem Virus entscheidende Tage und Wochen zu spät Einhalt geboten, weil man befunden hatte, noch nicht über ausreichend Daten zu verfügen. Doch unvollständige Informationen seien typisch für solche Krisen und kein Grund, nicht zu handeln, im Gegenteil.
Der Mensch redet auch grosse Risiken klein
Wir können Krisen also nicht verhindern – aber wir könnten ihre Wucht besser abfedern. Gutes Risikomanagement aber ist oft aufwendig und kostspielig. Je weiter ein Ereignis zurückliegt, desto schwieriger wird es, präventive Strategien und Massnahmen aufrechtzuerhalten und weiter zu rechtfertigen – erinnert sich doch irgendwann keiner mehr an den seltenen Fall, auf den sie ausgerichtet sind. «Das haben wir zuletzt in den Ländern gesehen, in denen zunehmend Betten auf den Intensivstationen eingespart wurden», sagt Cirillo. Betten, die in den letzten Jahren dringend notwendig gewesen wären. Hinzu kommt: Es liegt in der Natur des Menschen, selbst die grössten Risiken kleinzureden, wenn sie uns erst einmal eine Weile lang begleitet haben. So wie Kinder in Kriegsgebieten mit der Zeit zwischen zerbombten Gebäuden zu spielen beginnen, gewöhnen wir uns alle an die Gefahren um uns herum. Risikohomöostase nennt das die Wissenschaft. Man könnte auch sagen: Wir wollen einfach unser Leben leben.
Banken sind nur ein Risikofaktor von vielen für eine Finanzkrise
So viel vorab: Es gibt auch keine Kristallkugel, die uns die nächste Finanzkrise voraussagt. Natürlich gebe es Anzeichen, die früheren Krisen meist vorangegangen seien – und auch künftige Krisen ankünden dürften, sagt Jörg Osterrieder, Experte für Artificial Intelligence und Finance an der ZHAW. Wenn Banken etwa auf einmal allzu grosszügig riskante Kredite vergäben oder der Wert von Aktien oder Staatsanleihen viel zu hoch sei, verglichen mit ihrem zugrunde liegenden Wert. «Nur, wann genau die nächste Krise eintrifft, sagen auch diese Entwicklungen nicht voraus.»
«Banken sind heute sicher besser kapitalisiert und können Verluste eher verkraften.»
Nach der globalen Krise vor bald fünfzehn Jahren aber hätten Gesetzgeber und Regierungen grosse Anstrengungen unternommen, um künftige Finanzkrisen zu vermeiden oder wenigstens potenzielle Konsequenzen abzumildern. Zwar gebe es rechtliche Bestimmungen für Banken zum Umgang mit Risiken schon seit den siebziger Jahren – das also, was heute als Basel I bis Basel III bekannt ist. «In den vergangenen Jahren sind sie jedoch auf viel mehr Risiken und Produkte ausgeweitet worden», sagt der Professor an der ZHAW School of Engineering. Die Regelungen umfassen quantitative wie qualitative Massnahmen: Banken müssen sich heute eingehender mit den Risiken einer Investition auseinandersetzen und genügend Kapital vorhalten, um allfällige Verluste abzufedern; das bedeutet in erster Linie ausreichend Eigenkapital. Zudem sind Finanzinstitute zu mehr Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit verpflichtet und haben regelmässig Risikokennzahlen offenzulegen.
Ob diese Massnahmen nun aber der Grund seien, dass uns eine weitere globale Finanzkrise bisher erspart geblieben sei – so weit möchte sich Osterrieder nicht aus dem Fenster lehnen. «Banken sind heute sicher besser kapitalisiert und können Verluste eher verkraften», resümiert der Wissenschaftler. Grundsätzlich gebe es eine Vielzahl von Risiken für eine Finanzkrise, seien es nun politische und makroökonomische Faktoren oder auch plötzlich eintretende globale Veränderungen.
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