Sie forscht zu freiwilliger Arbeit und engagiert sich freiwillig für Inhaftierte
Sigrid Haunberger wechselt in ihrem Alltag spielend die Rollen: Von der ZHAW-Forscherin zur Begleiterin im Justizvollzug, von der Hochschuldozentin zur Deutschlehrerin für Geflüchtete. Was diese Rollen verbindet, ist das Thema Freiwilligenarbeit.
Zwei Dinge bewegen Sigrid Haunberger in ihrem Leben besonders: Wissenschaft und Freiwilligenarbeit. Kürzlich hat die Forscherin am Institut für Sozialmanagement mit Konstantin Kehl und Carmen Steiner die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zu «Freiwilligenmanagement» als Buch herausgegeben. Haunbergers Forschungsinteresse galt schon immer der formellen Freiwilligenarbeit. Was man darunter versteht, erklärt sie den Mitarbeitenden des ZHAW-Departements Soziale Arbeit so: «Formelle Freiwilligenarbeit wird für gemeinnützige Organisationen wie Vereine und andere Non-Profit-Organisationen geleistet, damit diese ihre gemeinnützigen Angebote durchführen können.»
Erfahrung und Zeit
Da die unbezahlte Freiwilligenarbeit in der Schweiz eine zentrale Säule der Gesellschaft sei und sich die Demografie verändere, gingen Haunberger und ihr Team der Frage nach, was Menschen im Rentenalter dazu bewegt, sich zu engagieren. Denn davon könnte die Gesellschaft in verschiedener Hinsicht profitieren: «Seniorinnen und Senioren bringen einen grossen Erfahrungsschatz mit», so Haunberger.
«Niemand darf sich zu einem Einsatz gedrängt fühlen.»
Hinzu komme, dass ältere Menschen oft über mehr zeitliche Ressourcen verfügten als andere. Und: Pensionierte können ihre eigene Lebensqualität positiv beeinflussen mit einem freiwilligen Engagement. Die Betonung liegt dabei auf «freiwillig». «Niemand darf sich zu einem Einsatz gedrängt fühlen», so Haunberger. «Aber es ist wichtig, dass diejenigen älteren Menschen, die sich gerne engagieren möchten und können, den Zugang haben zu freiwilligen Tätigkeiten und dass sie von den Organisationen gut begleitet werden.» Mit ihrem Buch wollen Haunberger und ihr Team Organisationen dabei unterstützen, interessierte Pensionierte für die Freiwilligenarbeit zu gewinnen, sie zu begleiten und anzuerkennen.
Pensionierte leisten viel freiwillige Arbeit
Dazu wollten die Forschenden herausfinden, welche Merkmale ältere Freiwillige auszeichnen, ob und in welchem Umfang Organisationen ein Freiwilligenmanagement betreiben und ob hier noch Handlungsbedarf besteht. Was Haunberger erstaunte: «Gemeinnützige Organisationen, die unsere Umfrage beantwortet haben, sind bezüglich Freiwilligenmanagement auf einem hohen Entwicklungsstand.» Jedoch sei auch erstaunlich, wie unterschiedlich Organisationen ihre Freiwilligen begleiteten. «Einige führen eine Art Aufnahmegespräch durch und bieten umfangreiche Schulungen für die Freiwilligen an, andere werfen ihre Freiwilligen direkt ins kalte Wasser.»
Beeindruckt hat Haunberger die hohe Zahl an geleisteten Stunden Freiwilligenarbeit, die dank dem Engagement von Menschen ab 65 in der Schweiz zusammenkommt. Im Durchschnitt: sechs Stunden pro Woche. «Und das seit jeweils durchschnittlich 25 Jahren», fügt die Forscherin an. Was auch zeigt: Die meisten freiwillig Engagierten waren schon vor ihrer Pensionierung aktiv als Freiwillige. Viele intensivieren dieses Engagement im Ruhestand.
Was Frauen in ihrem Vollzugsalltag beschäftigt
Auch die 48-jährige Sigrid Haunberger arbeitet seit jeher freiwillig in Organisationen. «Für mich gehört Freiwilligenarbeit einfach dazu», sagt sie. Aktuell engagiert sie sich als Begleiterin für Eingewiesene der Justizvollzugsanstalt Hindelbank, des einzigen Gefängnisses für Frauen in der deutschsprachigen Schweiz. Haunberger besucht dort eine Eingewiesene regelmässig und spricht mit ihr «über Gott und die Welt», wie sie sagt. «Wir haben sehr angeregte Gespräche», so Haunberger. «Wir reden über aktuelle gesellschaftliche oder politische Themen ebenso wie über Dinge, die die Frau in ihrem Vollzugsalltag beschäftigen.»
Der Einsatz wird von einer Fachstelle im Amt für Justizvollzug Bern koordiniert. «Manche Eingewiesene erhalten Besuch von Nahestehenden, andere nicht», so Haunberger. Wer möchte, könne darum Besuche von Freiwilligen beantragen. «Es geht darum, während der Haftzeit konstruktive Beziehungen zu pflegen, um die spätere gesellschaftliche Wiedereingliederung zu erleichtern.» Natürlich habe sie als Freiwillige keinen sozialarbeiterischen Auftrag und verstehe sich als möglichst objektive Gesprächspartnerin. Dennoch: «Es ist eine etwas ungewohnte, auch unklare Rolle. Ich bin weder eine professionelle Begleiterin, noch bin ich eine Freundin aus dem privaten Umfeld. Das macht die Einsätze für mich zusätzlich spannend.»
«Was ich in Freiwilligenarbeit mache, kommt direkt einzelnen Menschen zugute. Das ist herzberührend, ein sinnhaftes Erleben.»
Interessant findet sie die freiwillige Tätigkeit auch, weil sie ihr ermögliche, Einblick in andere Lebenswelten zu erhalten. Dasselbe gilt für ihr zweites freiwilliges Engagement: Im Auftrag des Schweizerischen Roten Kreuzes gibt sie Deutschkurse für Geflüchtete. Jeden zweiten Montagvormittag unterrichtet sie drei bis vier Stunden. Haunberger bezeichnet auch dieses Engagement als Horizonterweiterung.
Ihre freiwilligen Tätigkeiten geben ihr eine besondere Zufriedenheit, denn sie empfinde sie als sehr sinnstiftend, sagt Haunberger. «Auch meine Erwerbsarbeit finde ich sinnvoll. Aber das, was ich in Freiwilligenarbeit mache, kommt direkt einzelnen Menschen zugute. Das ist herzberührend, ein sinnhaftes Erleben.»
«Ich bin privilegiert, da ich mit einem Erwerbspensum von 80 Prozent arbeiten und davon leben kann. Deshalb ist Freiwilligenarbeit selbstverständlich.»
Als Ergänzung zu ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit seien für sie die Einsätze als Freiwillige perfekt, sagt Haunberger, die es früh in ihrer Laufbahn in die Forschung zog. Schon während des Studiums der Sozialen Arbeit hatte sie das Bedürfnis gehabt, tiefer in die Wissenschaft einzutauchen, und begann deshalb bald nach ihrem Abschluss ein Zweitstudium in Soziologie.
«Mir ist klar: Ich bin privilegiert, dass ich mit einem Erwerbspensum von 80 Prozent arbeiten und davon leben kann», so Haunberger. Umso mehr gehöre für sie Freiwilligenarbeit dazu. Die engagierte Wissenschaftlerin hat eine Vision: Arbeitgebende könnten ihren Mitarbeitenden während der Arbeitszeit die Möglichkeit einräumen, einer Freiwilligenarbeit nachzugehen. Sie ist überzeugt: «Das wäre für alle ein Gewinn.»
Buch über Freiwilligenmanagement
Sigrid Haunberger, Konstantin Kehl, Carmen Steiner (Hrsg.): «Freiwilligenmanagement in zivilgesellschaftlichen Organisationen. Anwerben, Begleiten und Anerkennen von freiwilligem Engagement im Alter». Seismo Verlag, 2022, auch auf Open Access verfügbar.
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