Sorgen, Hilfe, Selbsthilfe: Familien in der Krise
Eine ZHAW-Studie beleuchtet, wie Familien, die Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe im Kanton Zürich erhielten, die ersten beiden Corona-Wellen erlebten. Die Ergebnisse sind teilweise überraschend.
Haben Menschen einen Unfall oder eine Naturkatastrophe überstanden, lauten die ersten Fragen: Wie sind sie mit ihrer Angst und ihrem Stress umgegangen? Wer war für sie da? Und was können wir aus ihren Erfahrungen lernen? Die Corona-Pandemie ist ein ebenso einschneidendes Ereignis. Wie die Menschen sie bewältigt haben, war bereits Gegenstand einiger Studien und beschäftigt die Wissenschaft nach wie vor.
Bisher kaum untersucht wurde hingegen, wie es Eltern und Kindern erging, die schon vor der Pandemie Probleme hatten. Sie würden ganz besonders betroffen sein von der kollektiven Krise – so die Erwartung. Aber war das wirklich so, oder wussten zumindest manche sich selbst zu helfen? Um das herauszufinden, hat ein Forschungsteam des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie bei Familien nachgefragt, die kurz vor oder in der Pandemie verschiedene Angebote der Kinder- und Jugendhilfe im Kanton Zürich in Anspruch nahmen.
571 Eltern und 86 Jugendliche
Für ihre Studie «Familiäre Ressourcen in der Krise?» haben die beiden Studienleiter David Lätsch und Tim Tausendfreund sowie ihr Team des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie zwischen Oktober 2020 und Juni 2021 in einer schriftlichen Befragung Antworten von 571 Eltern und 86 Jugendlichen erhalten. Zudem wurden 17 Familien persönlich interviewt. Alle Befragten werden unterstützt von Fachpersonen der Erziehungs- und Besuchsrechtsbeistandschaften, der Mütter- und Väterberatung, der heilpädagogischen Früherziehung oder der Beratungs- und Elternbildungsstelle «zeppelin – familien startklar». Nicht alle Hilfen werden freiwillig in Anspruch genommen, manche werden von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) angeordnet. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich: Eltern sind überfordert oder krank, das Kindeswohl ist gefährdet, oder nach einer Trennung soll gewährleistet sein, dass ein Kind zu beiden Elternteilen den Kontakt aufrechterhalten kann (Besuchsrechtsbeistandschaften).
«Kinder sorgen sich nicht nur um sich selbst, sondern vor allem auch um ihr soziales Umfeld.»
Zunächst scheinen sich die Antworten der Befragten gar nicht so sehr zu unterscheiden von jenen aus anderen Studien mit Familien, die nicht in Hilfesysteme eingebunden waren oder über mehr sozioökonomische Ressourcen verfügen. So geben rund vier Fünftel aller Eltern an, dass man während des Lockdowns in der Familie ziemlich oder sehr gut miteinander auskam. Drei Viertel berichten, dass man die Situation im Lockdown gut bewältigte (siehe Abbildung). Aber auch von Schwierigkeiten wird berichtet. Ein Sechstel der Eltern fand, dass sich die Qualität der Zeit, die sie mit ihren Kindern verbrachten, während des Lockdowns zumindest teilweise verschlechtert habe.
Ähnlich hoch wie in anderen Untersuchungen ist auch in dieser Studie der Anteil der Jugendlichen, die sich Sorgen machen. So berichten 56 Prozent der befragten Jugendlichen im Februar 2021, dass sie manchmal oder öfter besorgt darüber sind, wie die Pandemie ihre schulische Zukunft beeinflussen könnte. Und schliesslich beschäftigt viele Jugendliche in den Wochen der zweiten Corona-Welle das Geld: 54 Prozent machen sich manchmal oder häufiger Sorgen um die Finanzen der Familie, fast die Hälfte sorgt sich auch um die Entwicklung der familiären Finanzen in der Zukunft (siehe Abbildung unten).
Hier sieht das ZHAW-Team Parallelen zur Children’s-World-Studie, einer internationalen Studie zum kindlichen Wohlbefinden, die die Forschenden vor der Corona-Pandemie durchgeführt haben: «Kinder sorgen sich nicht nur um sich selbst, sondern vor allem auch um ihr soziales Umfeld», erklärt Co-Studienleiter Tim Tausendfreund. Für das Amt für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich und die Sozialen Dienste der Stadt Zürich, welche die Studie in Auftrag gaben, war wichtig zu erfahren, ob die von ihnen angebotenen Hilfen für die Familien von Nutzen waren, um die Krise zu bewältigen. Ein Blick auf die Auswertungen zeigt: Es sind Hilfen angekommen, aber nicht bei allen. Angebote der Mütter- und Väterberatung und heilpädagogische Früherziehung fanden grosse Zustimmung. Bei den stärker belasteten Familien, die Hilfe durch Beiständinnen oder Beistände erhielten, waren die Unterschiede in den Bewertungen grösser.
Überraschendes Ergebnis
Zunächst irritieren mag, dass sich in der Interviewstudie 9 von 17 Eltern während des Lockdowns stark belastet fühlten, aber nur zwei von ihnen erzählen, dass die Beiständinnen sie emotional unterstützten. Hätte in dieser Hinsicht nicht mehr Unterstützung von den Fachpersonen kommen müssen? «Das könnte man annehmen, aber die Eltern selbst bewerten diese Diskrepanz meist nicht negativ», sagt David Lätsch. Den meisten scheint es gar nicht unbedingt in den Sinn gekommen zu sein, emotionalen Beistand ausgerechnet von den Beiständen zu erwarten. Und Co-Studienleiter Tausendfreund vermutet: «Möglicherweise haben manche Eltern ein Narrativ der Resilienzbildung entwickelt, das heisst, sie finden, die schwierigen Erfahrungen hätten den Zusammenhalt der Familie nicht etwa geschwächt, sondern gestärkt.»
Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden sind wichtig
Zugleich zeigt die Studie, wie einschneidend insbesondere die erste und zweite Welle der Corona-Pandemie für die sozialen Kontakte waren. Und wie wichtig für Kinder und Jugendliche ihre Freunde und Familienmitglieder sind, wenn es um die Lösung persönlicher Probleme geht. Gefragt nach Hilfen, die sie während der Pandemie vermissten, weisen Eltern vor allem auf bessere Möglichkeiten der Kinderbetreuung und auf stärkere Unterstützung bei der schulischen Begleitung der Kinder hin. Manche hätten sich zudem Angebote gewünscht, die Kontakte mit Gleichaltrigen oder Eltern in ähnlichen Lebenssituationen ermöglicht hätten. Die Ergebnisse der Studie sind nun die Basis für Workshops oder Praxisempfehlungen des Amts für Jugend und Berufsberatung und der Sozialen Dienste der Stadt Zürich. Das Ziel ist, die Angebote künftig noch besser auf die Ressourcen und Bedürfnisse der unterstützten Familien auszurichten.
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