Wenn das Studium zum täglichen Kampf wird
Überforderung, Ängste und Verzweiflung. Immer mehr Studierende an Hochschulen und Universitäten suchen psychologische Beratungsstellen auf. Vor allem in den ersten beiden Semestern ist für viele das Studium eine tägliche psychische Herausforderung.
Maja Weber (Name geändert) sitzt in einem leeren Vorlesungssaal. Sie hat sich einen Platz direkt neben der Tür ausgesucht. Ihr Rücken zeigt zur Wand, sodass sie aus den Fenstern schauen kann. Wäre der Raum voll mit Studierenden oder hätte er keine Fenster, würde sie mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Panikattacke erleiden. Selbst jetzt mit nur zwei Personen im Raum wirkt sie angespannt. Immer wieder ballt sie ihre Hand zu einer Faust. Während sie spricht, atmet sie schneller und lauter. Gegen Ende der Sätze geht ihr etwas die Luft aus. Eine Pause machen oder abbrechen möchte Weber nicht. Sie setzt sich dafür immer wieder anders hin und lächelt.
Angst- und Panikstörung
Weber leidet seit vier Jahren unter einer Angst- und Panikstörung. Dazu kommt die Erwartungsangst – die Angst vor der Angst. Sie ist jedoch nicht die einzige Studentin mit einer psychischen Störung. Das geht aus dem Jahresbericht 2020 der psychologischen Beratungsstelle der ZHAW hervor. Psychische Störungen waren der häufigste Grund, warum Studierende die Beratung aufsuchten. Über die letzten fünf Jahre gesehen, nahm die Anzahl Neuanmeldungen kontinuierlich zu. 2021 hat sie ein neues Hoch erreicht. Ein neuer Höchstwert ist auch bei der Psychologischen Beratungsstelle der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) zu sehen.
«Wenn jemand Panikattacken hat, dann sagt man dies nicht, und man weiss, warum man es nicht sagt. Eben weil es ein Stigma in der Gesellschaft gibt.»
«Wenn sich jemand das Bein gebrochen hat, dann sagt man dies und schämt sich nicht dafür. Wenn jemand Panikattacken hat, dann sagt man dies nicht, und man weiss, warum man es nicht sagt. Eben weil es ein Stigma in der Gesellschaft gibt», sagt Maja Weber, Studentin mit einer Angst- und Panikstörung.
Mehrere Panikattacken am Tag
Seit September 2020 ist Weber Studentin. Damit begann für sie ein neuer Lebensabschnitt. Ein neuer Campus, eine längere Zugfahrt, ein neuer Alltag, neue Herausforderungen. Alles war neu. Bei vielen weckt das Neugier und Freude. Bei ihr wurde das Studium vor Ort aber zu einem täglichen Kampf. Mehrmals am Tag hatte sie Panikattacken, fühlte sich überfordert, war verzweifelt und konnte sich nicht konzentrieren. Weil sie sich nicht konzentrieren konnte, machte sie sich noch mehr Sorgen. Sie geriet in eine Abwärtsspirale. Nach den ersten paar Wochen wusste sie nicht, wie sie das Studium so meistern sollte. Das Studium pausieren lassen oder abbrechen wollte sie nie. «Ich will nicht, dass die Angst die Überhand über mein Leben gewinnt», sagt Weber. Auch für andere Studierende ist das erste Studienjahr eine besondere Herausforderung. Die meisten melden sich in den ersten beiden Semestern bei den Beratungsstellen, wie Statistiken der PH Zürich, der ETH Zürich und der Universität Zürich zeigen.
Ein Asthmaanfall wird zum Auslöser der Störung
Wegen der Covid-19-Pandemie konnte Weber ihre Vorlesungen nur knapp vier Wochen vor Ort besuchen. Danach wechselte alles in den Online-Modus. Auch die ersten beiden Lern- und Prüfungsphasen absolvierte sie von zu Hause. Dadurch hatte sie weniger Panikattacken und konnte sich besser konzentrieren.
Das sind für Maja Weber «Horror-Orte»
Auslöser für die Panikattacken ist ihr Asthma. Während einer Schulstunde im Jahr 2018 verlor Weber wegen eines schweren Asthmaanfalles immer wieder für wenige Sekunden das Bewusstsein. Weber lag am Boden, ihre Schulkolleg:innen standen um sie herum und schauten auf sie hinunter. «Ich kam mir vor wie ein Käfer», sagt sie. In dem Moment sei etwas in ihr zerbrochen. Später hatte sie deswegen ständig Albträume. Die Angst, sie würde ersticken, wurde zum ständigen Begleiter. Sie trieb kaum mehr Sport, vermied den öffentlichen Verkehr und Restaurants, hatte ständig Angst und täglich Panikattacken. Ihre Verzweiflung wurde so gross, dass sie sogar Selbstmordgedanken hatte. Weber schämte sich.
Menschen sprechen eher über gebrochene Beine
Auf die Frage, wie viele Panikattacken Maja Weber schon hatte, antwortet sie: «Schon über hundert.» Für ihre Panikattacken hat sie verschiedene Auslöser, sogenannte Trigger. Geschlossene Räume, Räume ohne Fenster, Menschenmengen oder keine Möglichkeit, schnell weg- oder hinauszukommen. Das Studium war ein Verstärker ihrer Angst- und Panikattacken. Im Audio-Beitrag spricht sie über ihre Panikattacken und ihren Umgang damit während des Studiums.
Die Psychologin Filomena Sabatella von der Fachgruppe Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie an der ZHAW gibt Einblicke, was bei psychischen Störungen zu Beginn oder während des Studiums getan werden kann. Sie erklärt, weshalb es Menschen leichter fällt, über gebrochene Beine zu sprechen.
Über psychische Störungen und Tipps im Umgang mit ihnen im Audio-Beitrag
Auch heute hat Weber noch Mühe, über ihre psychischen Störungen zu sprechen. «Ich falle lieber in Ohnmacht und erkläre es mit meinem Asthma, als dass andere erfahren, dass ich unter Panikattacken leide», sagt sie.
Dass sich immer mehr Studierende bei den Beratungsstellen melden, muss nicht zwingend etwas Schlimmes sein. Das Verständnis für jemanden, der Mühe im Alltag bekundet, sei während der Covid-19-Pandemie grösser geworden, stellt Cornelia Beck fest. Sie ist Beraterin in der Psychologischen Beratungsstelle der Universität Zürich und ETH Zürich und leitet diese seit 2016. In diesem Alter seien junge Menschen anfällig für Krisen, sagt die Expertin. Dann beschäftigten sie sich mit unzähligen Fragen über sich selbst, zu ihrem Leben und müssten viele Entscheidungen treffen.
Die Angst als anstrengende Begleiterin
Wann sich die Studierenden bei den Beratungsstellen melden, ist unterschiedlich. Einige kommen, wenn ihr Problem akut ist, andere, wenn die Belastung zu hoch ist und das Studium beeinträchtigt wird, und wiederum andere melden sich zu spät. Beck sieht den Grund dafür darin, dass es noch immer Studierende gibt, die meinen, in die Beratung zu gehen, sei wie eine Art «Verdammnis in eine psychische Erkrankung». Tendenziell suchen mehr Frauen als Männer die psychologischen Beratungsstellen auf. Dies liegt zum einen daran, dass Frauen offener sind, sich Hilfe zu holen. Zum anderen studieren mehr Frauen als Männer.
Auch Weber hat sich Hilfe geholt. Heute kann die Studentin mit ihren Panikattacken besser umgehen. Der Gedanke, vor anderen zu ersticken, ist im Gegensatz zu früher mehr im Hinterkopf. Geholfen hat ihr eine Atemtherapie, welche sie auch heute noch besucht. Anstatt wie früher zu versuchen, die Angst- und Panikstörung loszuwerden, akzeptiert sie sie jetzt. «Sie ist nicht zu meiner besten Freundin geworden, aber ich akzeptiere sie als anstrengende Begleiterin», sagt sie. Wenn sie könnte, würde sie die Angst aber sofort abgeben. Sie hofft, spätestens bei der Gründung einer eigenen Familie keine Panikattacken mehr zu haben.
Kontaktinformationen der psychologischen Beratungsstellen
Psychologische Beratungsstelle ZHAW: Studierende der ZHAW können sich auf der Website der Beratungsstelle informieren. Anmeldungen erfolgen über ein Anmeldeformular, welches per E-Mail an die Beratungsstelle gesendet werden muss. Telefonische Auskunft gibt es unter +41 (0) 58 934 83 30.
Psychologische Beratungsstelle ETH Zürich und Universität Zürich: Studierende der UZH und ETH können sich bei der Psychologischen Beratungsstelle über die Angebote informieren. Terminvereinbarungen erfolgen über die E-Mail-Adresse der Beratungsstelle. Vor der ersten Konsultation muss ein Anmeldeformular ausgefüllt werden.
Psychologische Beratung Pädagogische Hochschule Zürich: Studierende an der PHZH können sich bei der Psychologischen Beratung informieren. Termine können per Telefon (+41 43 305 50 80) oder per E-Mail vereinbart werden.
*Annick Vogt
Die Autorin Annick Vogt studiert Journalismus im Bachelorstudiengang Kommunikation am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft. Diese Beiträge entstanden in der Werkstatt «Multimediales Storytelling» im fünften Semester. In dieser Werkstatt erarbeiten die Studierenden Beiträge für die Praxis, unter Bedingungen und in Abläufen, wie sie im Journalismus üblich sind.
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