Wenn Studierende selbstständig Kranke behandeln

30.11.2021
4/2021

Am Kantonsspital Winterthur managen Auszubildende und Studierende verschiedener Gesundheitsberufe gemeinsam zwei Patientenzimmer. Das Ausbildungsmodell ZIPAS sensibilisiert sie für die wichtige interprofessionelle Zusammenarbeit und ist schweizweit einmalig.

«Es rasselt ein bisschen», sagt Medizinstudentin Sophie Strasser zur Patientin im Spitalbett. «Sie haben immer noch ein wenig Wasser auf der Lunge.» Nicht nur die angehende Ärztin, sondern auch ein Pflegestudent und eine zukünftige Physiotherapeutin hören die ältere Frau mit dem Stethoskop ab. Nach der Visite tauschen sie sich auf dem Gang aus. Sophie Strasser legt schliesslich fest, das Medikament gegen Lungenödeme höher zu dosieren. «Schauen wir mal, ob das eine weitere Verbesserung bringt», meint sie. «Wir sind ein motiviertes Team», sagt sie später, als sie im Stationsbüro einen Bericht verfasst. «Wir geben uns gegenseitig unser Wissen weiter.»

«Wir arbeiten auf Augenhöhe zusammen und profitieren voneinander.»

Lionel Fend, Bachelorstudent Pflege

Darauf zielt das Ausbildungsmodell Zürcher interprofessionelle klinische Ausbildungsstation ZIPAS (siehe Box) ab. «Die Teilnehmenden sollen ein besseres Verständnis und eine Offenheit für andere medizinische Berufsgruppen entwickeln», sagt Seraina Beerli, stellvertretende Leiterin Berufsbildung am Kantonsspital Winterthur (KSW). «Sie sollen von- und miteinander lernen.» 

Ein Austausch auf Augenhöhe

Am KSW sind Anfang November, als dieser Bericht entstand, sieben Studierende der Medizin, der Pflege und der Physiotherapie für zwei Zimmer auf der allgemeinmedizinischen Abteilung zuständig. Sie organisieren sich selbst und versorgen Patientinnen und Patienten eigenständig. Zur Seite stehen ihnen drei Supervisorinnen, sogenannte Facilitatorinnen. «Wir arbeiten auf Augenhöhe zusammen und profitieren voneinander», sagt Lionel Fend, der an der ZHAW Pflege studiert und sein letztes Praktikum absolviert. Er hat unter anderem an den Röntgenrapporten, die sonst der Ärzteschaft vorbehalten sind, spannende Einblicke erhalten. Im Gegenzug hat er mit den künftigen Ärztinnen geübt, einen Venenkatheter zu legen und Blut abzunehmen. «Die Pflegenden haben darin mehr Routine als wir», sagt Paula von der Lage, die an der Universität Zürich Medizin studiert. An diesem Morgen nun unterstützt sie ihre Kollegin von der Physiotherapie bei einem Gehtraining. Gemeinsam gehen sie mit einer Patientin den langen Korridor entlang und eine Treppe hoch. Auf dem Rückweg übernimmt es Paula von der Lage, die betagte Frau zu sichern. «Wir geben einander bewusst Aufgaben ab», sagt sie. Die gegenseitige Wertschätzung nehme dadurch zu.

Jedes Team geht seinen eigenen Weg

Die Stichworte «Wertschätzung», «Konfliktfähigkeit» und «Kreativität» sind auch an einer Pinwand im Büro zu lesen. Sie benennen drei interprofessionelle Kompetenzen, die das ZIPAS-Team in dieser Woche besonders stark gewichtet. Am Ende des Durchgangs soll es sich in zwölf interprofessionellen Fähigkeiten verbessert haben. «Die Teilnehmenden ergänzen einander und entwickeln sich zusammen weiter», sagt Seraina Beerli. Sie hat am KSW zwei Testläufe der ZIPAS begleitet und freut sich nun über den Regelbetrieb. Jede Gruppe funktioniere anders, jede gehe ihren eigenen Weg. 

«Ich präsentiere keine Ideen, sondern stelle Fragen.»

Vanessa Vega, Berufsbildnerin Pflege am Kantonsspital Winterthur

«Die Lernenden sollen befähigt werden, selbst zu einer Lösung zu gelangen», sagt Facilitatorin Vanessa Vega, die als Berufsbildnerin Pflege am KSW tätig ist. Sie hält sich bewusst im Hintergrund. «Ich präsentiere keine Ideen, sondern stelle Fragen.» Nur wenn es um die Patientensicherheit geht, wird sie von sich aus aktiv. Sie weist etwa darauf hin, dass ein Antibiotikum intravenös abgegeben werden kann, ohne dass dafür zuerst der Katheter gespült werden muss. «Beim Spülen besteht immer ein gewisses Infektionsrisiko», erklärt sie. 

Personal und Patienten sind zufriedener

Die Facilitatoren müssten über ein breites Fachwissen verfügen und den Überblick behalten, sagt Marion Huber vom Departement Gesundheit der ZHAW. Sie müssten kreative Lösungen zulassen. «Die Teilnehmenden lernen, indem sie selbstgesteuert handeln und ihr Handeln reflektieren.» Marion Huber hat im ZIPAS-Projektverbund die Expertengruppe geleitet, welche die Lernziele definiert hat. Sie begleitet ZIPAS zudem wissenschaftlich und berichtet von positiven Effekten. So ist die fachübergreifende Kooperation mit besseren Handlungsabläufen und kürzeren Kommunikationswegen verbunden. Die Bürokratie nimmt ab. Das Personal schätzt den Austausch und ist motiviert. Die Patientinnen werden qualitativ hochstehend versorgt und fühlen sich sicher. Sie bleiben im Durchschnitt weniger lang im Spital, als dies auf vergleichbaren Stationen der Fall ist. Die Kosten nehmen dadurch tendenziell ab.

«Die Teilnehmenden lernen, indem sie selbstgesteuert handeln und ihr Handeln reflektieren.»

Marion Huber, Departement Gesundheit der ZHAW

Seraina Beerli bestätigt diese Befunde aus dem Spitalalltag. «Die Patienten sind froh, wenn sie nicht immer wieder die gleichen Fragen beantworten müssen.» Doppelspurigkeiten kämen seltener vor. Positiv äussern sich auch die Teilnehmenden. «Wir werden diese Sensibilität für andere Berufsgruppen mitnehmen», sagt Lionel Fend. Er fände es gut, wenn alle Pflegestudierenden eine solche Praxiserfahrung machen könnten. 

«Das gegenseitige Verständnis ist enorm wertvoll», pflichtet ihm Sophie Strasser bei. Sie schätzt es, im Rahmen von ZIPAS selbstständig arbeiten und Verantwortung übernehmen zu können. Sie ist überzeugt, dass die Patienten und das Gesundheitswesen als Ganzes von mehr Vernetzung profitieren würden. Viele Fachleute betonen, dass Interprofessionalität angesichts der steigenden Kosten, der demografischen Entwicklung sowie des Fachkräftemangels gestärkt werden müsse. «Sie kann ein wichtiger Baustein sein, um diese Herausforderungen zu meistern», sagt ZIPAS-Projektleiter Gert Ulrich von Careum. Das KSW will ihr künftig noch mehr Gewicht geben. Das Spital kann sich vorstellen, auf weiteren Abteilungen ZIPAS-Stationen einzurichten. 

Das ZIPAS-Modell ist schweizweit einmalig und weckt Interesse in anderen Kantonen

Dass Auszubildende verschiedener Gesundheitsberufe gemeinsam und interprofessionell klinische Patienten betreuen, ist in der Schweiz neu. 2019 hat das Universitätsspital Zürich mit ZIPAS gestartet. Es betreibt Stationen auf der Chirurgie und der Inneren Medizin. Am Kantonsspital Winterthur fand vor Kurzem der erste reguläre Durchgang statt. An der Universitätsklinik Balgrist und am Kinderspital Zürich laufen Pilotphasen. «Wir haben bereits Anfragen aus anderen Kantonen erhalten», sagt Projektleiter Gert Ulrich. Das ZIPAS-Konzept ist so ausgelegt, dass es auf weitere Medizinbereiche, Abteilungen und Spitäler ausgeweitet werden kann.

Sechs Institutionen haben es gemeinsam entwickelt: Das Careum Bildungszentrum, die Careum Stiftung, die Medizinische Fakultät der Universität Zürich, das Universitätsspital Zürich, das Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen und das Departement Gesundheit der ZHAW. Sie haben sich dafür in Schweden inspirieren lassen, wo ähnliche Modelle seit den 1990er Jahren umgesetzt werden. Zweimal haben Delegationen des ZIPAS-Projektverbundes Kliniken in Stockholm besucht. «Wir in Zürich haben einen breiteren, theoriebasierten Ansatz gewählt», erklärt Ulrich. Das Projektteam hat sich dazu intensiv mit den Grundlagen befasst. Es hat unter anderem Lernziele definiert, Schulungskonzepte erstellt, die Machbarkeit getestet und Pilotphasen wissenschaftlich evaluiert. So hat es ein Manual erarbeitet, von dem nun auch andere Spitäler profitieren können. «Alle sechs Institutionen haben ihre Expertise eingebracht», sagt Gert Ulrich. «Diese gemeinsame Herangehensweise ist innovativ und gewinnbringend.» Im ZIPAS-Projektverbund sind dadurch Ideen für weitere fachübergreifende Kooperationen entstanden.

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