«Beim Velofahren  wähnt man sich hier im Wilden Westen»

19.09.2023
3/2023

Warwick–Winterthur: Die Co-Leiterin des Instituts für Übersetzen und Dolmetschen (IUED) Chantal Wright stammt aus England und lebt seit September 2022 in Winterthur.

Ich bin schon viel herumgekommen. In Cambridge studierte ich Deutsch und Französisch, darauf arbeitete ich in Deutschland und Österreich. Es folgten Master und PhD in Norwich. Nach der Promotion zog es mich nach Kanada, später in die USA und wieder zurück nach England. Die Stellenausschreibung für die Co-Leitung des IUED hat mich sofort gereizt. Ich war zuvor noch nie in der Schweiz und wusste nicht einmal, dass man sich hier mit «Hoi» begrüsst. Und das, obwohl ich schon in der Schule Deutsch lernte und mich als literarische Übersetzerin intensiv mit der deutschen Sprache auseinandersetze.

Das schweizerische Deutsch wird in der Auslandsgermanistik leider vernachlässigt. So musste ich eigentlich eine neue Sprache lernen. Es fasziniert mich, wie schnell die Leute switchen zwischen Standarddeutsch und Schweizerdeutsch und wie viele Anglizismen verwendet werden. Häufig auch solche, die es gar nicht gibt – «Homeoffice» zum Beispiel sagt in England niemand, wir sagen «working from home». Manchmal muss ich nachfragen, was ein vermeintlich englischer Begriff bedeutet.

Grosse Hilfsbereitschaft

Sehr positiv überrascht bin ich von der Höflichkeit, der Bescheidenheit und der Geduld der Leute hier. Grossbritannien gilt ja als Land der guten Manieren – aber wenn es im Supermarkt an der Kasse nicht vorwärtsgeht, dann verlieren wir die Nerven. In der Schweiz hingegen benimmt sich nie jemand daneben in der Öffentlichkeit. Neulich ist mir vor dem Supermarkt eine Flasche Kürbiskernöl auf den Boden gefallen. Alles war voller Öl und Scherben. Da boten mir gleich zwei fremde Personen ihre Hilfe an und fragten, ob ich verletzt sei. In England wäre das nie und nimmer passiert. Irritierend ist hier hingegen, dass beim Kontakt mit Behörden immer mein Mann angesprochen wird, als ob er die wichtigere Person wäre. Das ist schon sehr altmodisch. Und witzig finde ich, dass in der Schweiz alles sehr organisiert, durchdacht und gesittet ist – nur beim Velofahren wähnt man sich im Wilden Westen. Es wird rechts überholt, gedrängelt, über Rot gefahren. Ich muss aber zugeben, dass ich dieses Verhalten auch schon ein bisschen angenommen habe.

Ich bin sehr glücklich mit Winterthur als Wahlheimat. Die Altstadt ist wunderschön und es gibt tolle Anlässe, wie etwa die Afro-Pfingsten. Als ich herzog, kam ich aus einem Grossbritannien, das sehr vom Brexit geprägt war. Die Stimmung war gegen Europa, gegen die Mehrsprachigkeit, gegen das Anderssein. Hier schätze ich die Offenheit für andere Kulturen und fühle mich als Ausländerin willkommen.  

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