Beleghebammen: «Ich mag es, dass wir unsere eigenen Chefinnen sind»

20.09.2022
3/2022

Eine sinnvolle Arbeit und fliessende Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit – das ist für Hebammen alles andere als neu. Auch nicht für ZHAW-Absolventin Meret Scheidegger. Sie muss viel Flexibilität beweisen, kann dafür aber in der eigenen Gruppenpraxis nach ihren Vorstellungen arbeiten. 

Ab und zu muss Meret Scheidegger ihren Bekannten in Erinnerung rufen, dass Babys nun mal dann zur Welt kommen, wenn sie kommen. «Die meisten in meinem Umfeld haben sich aber daran gewöhnt, dass ich manchmal auf Pikett bin und kurzfristig eine Verabredung absagen muss.» Die 31-Jährige hat im Dezember 2019 gemeinsam mit ihrer Kollegin Ramona Koch, die daneben als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ZHAW arbeitet, die Hebammenpraxis Heviana gegründet. Seit Januar 2022 ist die Hebamme Zoe Schuler angestellt.

Offen bis zum Schluss

Die drei arbeiten als Beleghebammen. Das bedeutet, dass sie Frauen von Anfang der Schwangerschaft an, während der Geburt und in den ersten acht Wochen nach der Geburt betreuen. «Es ist uns wichtig, dass wir die Frau und ihre Familie über die ganze Zeit begleiten», sagt  Scheidegger. Die Schwangeren lernen jede der drei Hebammen kennen. So treffen sie auf ein bekanntes Gesicht, wenn sich das Baby schliesslich auf den Weg macht. «Normalerweise betreut bei uns die gleiche Hebamme eine Geburt von Anfang bis Ende. Nur wenn es sehr lange dauert, kann es vorkommen, dass wir eine Übergabe machen», erklärt sie. Die Beleghebammen betreuen die Geburten eigenständig, sofern diese ohne Komplikationen verlaufen. Im Notfall können sie aber auf das ärztliche Personal im Kantonsspital Winterthur (KSW) zurückgreifen, mit dem die Praxis zusammenarbeitet.

Die Heviana-Frauen haben ihre Tage in drei Kategorien aufgeteilt: Praxistage, Pikett oder frei. An den Praxistagen führen sie Schwangerschaftskontrollen durch und erledigen Administratives. An den Piketttagen machen sie Wochenbettbesuche oder betreuen eine Geburt. Und ab und zu steht «frei» im Kalender, dann zieht es Scheidegger in die Berge oder zum Training in den Turnverein. Den Arbeitsplan erstellen die drei Hebammen etwa sechs Monate im Voraus. Was an den Piketttagen geschehen wird, weiss sie aber bis zum Schluss nicht. «Vielleicht arbeite ich drei Stunden, vielleicht 23. Vielleicht haben wir eine Geburt in der Woche, vielleicht vier. Mit dieser Unsicherheit muss man leben können», sagt Scheidegger. 

«Heute wollen sich viele jüngere Hebammen so organisieren, dass sie eine Work-Life-Balance finden können, etwa durch Gruppenpraxen.»

Meret Scheidegger, Beleghebamme

Befriedigend ist für die Hebamme mit Bachelorabschluss der ZHAW und Masterdiplom aus Innsbruck, dass sie die Familien nun so betreuen kann, wie sie sich das vorstellt: «Ich schätze die Kontinuität, dass ich die Frauen während der Schwangerschaft durch alle Höhen und Tiefen begleiten kann, vielleicht bei der Geburt dabei bin und dann erlebe, wie die neue Familie zusammenwächst und unsere Betreuung irgendwann nicht mehr braucht», sagt Meret Scheidegger. «Man weiss aus der Forschung, dass eine kontinuierliche Betreuung für Schwangere gesundheitsfördernd ist. Bei unserem Modell liegt diese nicht an einer einzigen Person – aber wir vertreten die gleiche Haltung und geben die gleichen Infos weiter.» Ihre Klientinnen können rund um die Uhr an sieben Tagen der Woche Rat bei einer der drei Hebammen einholen.

Mit dem Velo unterwegs 

Merkmale von «New Work» wie die verschwimmenden Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit oder die Wichtigkeit einer sinnvollen Arbeit waren im Hebammenberuf schon immer präsent. «Heute wollen sich aber viele jüngere Hebammen so organisieren, dass sie eine Work-Life-Balance finden können, etwa durch Gruppenpraxen. Trotzdem bleibt die Arbeitsbelastung hoch», sagt Meret Scheidegger. Sie kennt auch das Kliniksystem aus eigener Erfahrung, hat zuvor in Horgen und Winterthur als angestellte Hebamme gearbeitet. «Natürlich hat es manchmal auch Vorteile, wenn man nach acht Stunden Schicht gehen kann. Aber mir entspricht unser Modell mehr. Ich muss zum Beispiel nicht mehrere Geburten gleichzeitig betreuen.» 

Die eigene Chefin sein

Beim Sprung in die Selbstständigkeit hatte sie den Vorteil, dass die Auftragsbücher praktisch ab dem ersten Tag gefüllt waren. «Wir wussten natürlich im Voraus, wie gesucht Beleghebammen sind.» Die Heviana-Praxis kann es sich deshalb erlauben, nur Familien in der Stadt Winterthur anzunehmen, denn die drei Hebammen sind mit dem Velo unterwegs zu Geburten und Wochenbettkontrollen. «Ich mag es, dass wir unsere eigenen Chefinnen sind», sagt Meret Scheidegger und ergänzt schmunzelnd:  «Mir kommt es auch entgegen, dass mein Arbeitstag normalerweise nicht vor 9 Uhr beginnt.» 

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