Dem Schichtplan entkommen
In der Pandemie sind viele Pflegefachkräfte ausgebrannt. Eine Kündigungswelle hat die Spitäler erfasst und Festangestellte wechseln zu Temporärbüros: Deren Onlineplattformen boomen. Ein ZHAW-Forschungsprojekt untersucht die Folgen dieser Entwicklung.
Die Alarmzeichen häufen sich: Spitäler in mehreren Kantonen mussten in den letzten Monaten ihre Bettenkapazitäten reduzieren und Operationstermine verschieben, weil Pflegepersonal fehlt. Die Zahl der ausgeschriebenen Stellen im Pflegebereich steigt und steigt. Überall werden händeringend Fachkräfte gesucht. Das Kantonsspital Luzern zum Beispiel zahlt Angestellten bis zu 1500 Franken Prämie, wenn sie bis Ende Jahr eine neue Kollegin oder einen neuen Kollegen vermitteln. Und das Regionalspital Wetzikon im Zürcher Oberland versucht, seine Festangestellten mit besseren Arbeitsbedingungen von einer Kündigung abzuhalten. Es hat die Arbeitszeit des Pflegepersonals ab Juni um zehn Prozent reduziert – bei unverändertem Lohn. «Solche Massnahmen zeigen, wie gross die Not ist», kommentiert Florian Liberatore vom Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie der ZHAW.
«Inzwischen füllen die Temporärkräfte aber immer kurzfristiger Lücken, die durch Ausfälle entstehen und aufgrund der vielen ausgeschriebenen Stellen, die nicht mehr besetzt werden können.»
Neue Rolle der Temporärfirmen
Zugleich beobachtet Liberatore auf dem Arbeitsmarkt für Pflegefachkräfte ein weiteres Phänomen: Die traditionelle Rolle der Temporärfirmen beginnt sich zu wandeln. Bislang nutzten Spitäler und Pflegeheime die Vermittler vor allem dann, wenn eine längere Absenz wie ein Mutterschaftsurlaub absehbar war und intern niemand einspringen konnte. Oder wenn es darum ging, saisonale Schwankungen aufzufangen, zum Beispiel bei Kliniken in Skigebieten während der Winterferien. «Inzwischen füllen die Temporärkräfte aber immer kurzfristiger Lücken, die durch Ausfälle bei Krankheit oder Unfall entstehen und aufgrund der vielen ausgeschriebenen Stellen, die nicht mehr durch fest angestelltes Personal besetzt werden können», sagt der Gesundheitsökonom.
Entlastung für Pflegedienstleitung
Die Digitalisierung erleichtert dieses Just-in-time-Temporärgeschäft. Spezialisierte Personalverleiher haben Onlineplattformen aufgebaut, auf denen man bis 24 Stunden vor dem geplanten Einsatz eine Pflegefachkraft für eine Acht-Stunden-Schicht (oder mehrere Schichten) buchen kann. Ein Mausklick genügt – die Plattform regelt im Hintergrund alles Vertragliche und schickt der Temporärkraft die notwendigen Informationen, wann sie sich wo einzufinden hat. Der Pflegedienstleiter oder die Pflegedienstleiterin muss also nicht mehr mühsam eine Liste abtelefonieren und Leute an ihrem freien Tag zu einer Zusatzschicht überreden, wenn eine Lücke auftaucht.
«Jedes Jahr steigen acht Prozent der Pflegekräfte aus dem Gesundheitsberuf aus. 45 Prozent der Pflegekräfte werden nicht in ihrem gelernten Beruf pensioniert.»
Der Bedarf hierfür ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Das zeigt die Temporärplattform careanesth.com, die zu den Marktführern in diesem Segment gehört. Sie vermittelte im ersten Halbjahr 2022 rund 24'000 tageweise Schichteinsätze von Pflegefachpersonal. Das entspricht etwa einer Vervierfachung des Volumens vor der Pandemie, im ganzen Jahr 2019 waren es rund 12'000 vermittelte Schichteinsätze gewesen.
Andere Temporärfirmen unterhalten ähnliche Onlineplattformen. «Kaum wird ein Dienst angeboten, so ist er auch schon weggebucht – das geht im Handumdrehen», sagt Florian Liberatore. Ob jemand mit dem entsprechenden Spital vertraut sei, das Team und die Abläufe kenne, scheint im ersten Moment keine Rolle mehr zu spielen. Umso wichtiger wird deshalb die Rolle des Temporäranbieters beim Ausweis der Qualifikationen und Erfahrungen ihrer Arbeitskräfte und bei deren Assessments bei der Anstellung.
Auswirkungen auf den Fachkräftemangel
Liberatore leitet ein interdisziplinäres Forschungsteam an der ZHAW, das in Zusammenarbeit mit den Universitäten Basel und Freiburg die Folgen der digital vermittelten Temporärarbeit untersucht. Auf den Vermittlungsplattformen kann eine Temporärkraft ihre Verfügbarkeiten für einzelne Schichten angeben, also dass sie beispielsweise nur am Montag- und Dienstagnachmittag gebucht werden kann. Diese Verfügbarkeiten können dann von einer Gesundheitsinstitution bis 24 Stunden vor Schichtbeginn gebucht werden. Wie sich solche Plattformangebote auf den Fachkräftemangel auswirken, ist noch ungeklärt.
Der Effekt könnte negativ sein, da mehr Pflegefachpersonen in diese Arbeitsform wechseln und fortan in geringen Pensen selbstbestimmt zu attraktiven Stundenvergütungen im Gesundheitswesen arbeiten, um ihren Bedürfnissen nach Dienstplanung und der damit verbundenen Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit Rechnung zu tragen. Bloss: Dieser Effekt kommt auch dann zum Tragen, wenn die Gesundheitsinstitutionen zunehmend selbst ähnliche flexible Arbeitsmodelle anbieten.
Schichtplan digital erstellen
Womöglich lindert die plattformbasierte Temporärarbeit aber den Fachkräftemangel. «Wer bisher aus privaten Gründen komplett aus dem Beruf ausgestiegen wäre, arbeitet nun vielleicht reduziert weiter», sagt der Gesundheitsökonom. Denn genau das ist das Problem: Jedes Jahr steigen acht Prozent der Pflegekräfte aus dem Gesundheitsberuf aus. 45 Prozent der Pflegekräfte werden nicht in ihrem gelernten Beruf pensioniert.
Ebenfalls entlastend könnte sich auswirken, dass auch Spitäler oder Heime die Technologie und Dienstleistung der Temporärfirmen für den Aufbau und den Betrieb eines eigenen Personal-Pools nutzen können. Schichtpläne erstellen ist mühselig. Es gilt, den Bedarf unter einen Hut zu bringen mit den Präferenzen der einzelnen Festangestellten, der Reservekräfte aus dem spitaleigenen Pool, der temporären Aushilfen und mit den gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften. Oft erfolge das noch von Hand oder mit einer Excel-Tabelle, hat Liberatore beobachtet: «Das macht bei der Pflegedienstleitung schnell mal einen Tag pro Woche aus.» Eine digitale Lösung hingegen könnte im Nu einen Vorschlag für einen Schichtplan ausarbeiten. Der Mensch nimmt dann vielleicht punktuell noch ein paar Änderungen vor.
Möglicher Einfluss auf Qualität der Pflege
Das bis 2024 laufende Projekt ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms 77 «Digitale Transformation». Ein Impact-Modell wird die Effekte auf den Fachkräftemangel aufzeigen. Das erlaube bessere Prognosen, wenn es um die Umsetzung der Pflegeinitiative gehe, fügt Liberatore an. Das Projekt untersucht zudem die Einflüsse auf die Qualität der Pflege, um negative Auswirkungen zu reduzieren. Und ganz konkret erhalten sowohl Temporärkräfte als auch Institutionen einen Leitfaden, wie sie mit der plattformbasierten Temporärarbeit am besten umgehen.
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