Die vier Dilemmata der offenen Wissenschaft

05.12.2023
4/2023

Welchen Nutzen hat die Gesellschaft wirklich von öffentlich zugänglichen wissenschaftlichen Publikationen? Können Forschende als Open Scientist eine wissenschaftliche Karriere aufbauen? Wo sind Grenzen der offenen Wissenschaft? Der Beitrag beleuchtet vier Spannungsfelder, die es zu überwinden gilt, damit die neue offene Wissenschaftskultur Wirklichkeit wird.

Alle wissenschaftlichen Publikationen, die aus öffentlicher Förderung stammen, sollen bis spätestens im Jahr 2024 frei zugänglich sein. Solches Ziel haben sich Schweizer Hochschulen und der Schweizerische Nationalfonds (SNF) in der nationalen Open-Access-Strategie gesetzt. Der freie Zugang zu öffentlich finanzierten Forschungsergebnissen soll die Informationsversorgung der Öffentlichkeit verbessern, die Sichtbarkeit von Publikationen erhöhen und weltweit die interdisziplinäre Zusammenarbeit unterstützen. Doch wie gestaltet sich die Umsetzung von solchen gut gemeinten Vorsätzen in der Praxis und wo zeigen sich Grenzen?

Vier Spannungsfelder

In meiner kürzlich abgeschlossenen Dissertation habe ich genau solche Fragen gestellt und sie am Beispiel der Verhandlungen zwischen den niederländischen Universitäten und dem Wissenschaftsverlag Elsevier untersucht. Ähnlich wie in der Schweiz hatte die Niederlande zuvor beschlossen, alle wissenschaftlichen Publikationen und insbesondere Aufsätze in Fachzeitschriften nur noch in Open Access zu publizieren. In meinen Interviews mit den Mitgliedern von Verhandlungsteams wie auch Forschenden kristallisierten sich schnell vier grosse Spannungsfelder heraus.

Spannungsfeld 1: Unerwünschte Einmischung oder längst überfällig

Während die einen diese Zielvorgabe als eine unerwünschte Einmischung empfinden, beurteilten die anderen die neue Strategie weg vom derzeit vorherrschenden restriktiven Subskriptionsmodell bei Büchern hin zum kostenfreien elektronischen Zugang als längst überfällig.  

Spannungsfeld 2: Nützlich oder nutzlos

Zweitens löste diese Forderung eine grundsätzliche Debatte über die Nützlichkeit bzw. Nutzlosigkeit von freiem Zugang zu internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften aus. Wenn die breitere Öffentlichkeit für ihre Steuergelder tatsächlich eine Gegenleistung von Forschenden erhalten soll, sind für Forschende teure Freikäufe bei kommerziellen Grossverlagen wirklich eine Antwort darauf? Denn beim Open-Access-Modell lassen sich viele Verlage dafür bezahlen, dass die Forschungsergebnisse bei ihnen für das Publikum kostenlos veröffentlicht werden. Oder bedarf es vielmehr anderer Publikationsformen und Formate in für Laien verständlicher Sprache, inklusive Übersetzungen in lokale Sprachen und Fokussierung auf praktische Anwendungen sowie mögliche Problemlösungen?

Spannungsfeld 3: Gute oder schlecht für die Karriere

Drittens haben viele Forschende von einem tief empfundenen Dilemma berichtet, sich entweder für mehr Offenheit im Sinne von Open Access und Open Science oder für die Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse in renommierten Zeitschriften entscheiden zu müssen. Solche Zeitschriften verlangen meistens ein kostenpflichtiges Abonnement und sind deshalb in der Regel nur für Angehörige von Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen zugänglich. Gleichzeitig haben einige befragte Forschende mit ihrem eigenen Gegenbeispiel gezeigt, dass sich eine offene(re) Wissenschaft und wissenschaftliche Karriere nicht ausschliessen müssen. So laden sie ihre Publikationen, Forschungsdaten, Software und andere Forschungsergebnisse seit eh und je auf frei zugängliche Repositorien hoch, die in der jeweiligen Fachgemeinschaft gut bekannt und darüber hinaus genutzt werden. Wichtiger noch, auf diese Weise konnten sie ihren ganzen Karriereweg aufbauen und sich erfolgreich als Open Scientists profilieren.

Spannungsfeld 4: Idealisierung und Grenzen der Offenheit

Damit zusammenhängend hat sich ein weiteres Spannungsfeld herauskristallisiert: Nämlich einerseits die Idealisierung der angeblich offenen Wissenschaft und andererseits wie weit soll bzw. kann diese Offenheit reichen. Exemplarisch dafür steht die Idee, die Begutachtung neuer wissenschaftlicher Beiträge «offener» zu gestalten und beispielsweise sogar die Namen von Gutachtenden wie die Gutachten selbst öffentlich zu teilen (sog. Open Peer Review). Allerdings bevorzugen die meisten Forschenden das gängige anonymisierte Verfahren, um mögliche Konflikte und allfällige Vergeltungsmassnahmen zu vermeiden.

Ein Ausweg aus einem falschen Dilemma

Das Fazit meiner Analysen ist: Open Access und Open Science aktiv zu leben und gleichzeitig eine wissenschaftliche Karriere zu haben muss keine Entweder-oder-Entscheidung sein. Damit eine neue Wissenschaftskultur entsteht, braucht es Initiativen wie die Koalition zur Weiterentwicklung der Forschungsbeurteilung (CoARA), der die ZHAW jüngst beigetreten ist. Die unlängst gegründeten Arbeitsgruppen von CoARA setzen sich dafür ein, solche Spannungsfelder wie die bereits erwähnten zu beseitigen sowie mehr Anerkennung für die Diversität von Forschungsleistungen zu erreichen.

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