Lernen in der Arbeitswelt 4.0

20.06.2023
2/2023

Die heutigen Arbeitswelten erfordern, dass die Beschäftigten sich kontinuierlich weiterbilden. Sie tun dies immer mehr selbstverantwortlich. Arbeitgeber müssen dafür die entsprechende Lernumgebung und Lernkultur bereitstellen. Hier besteht Nachholbedarf, wie eine aktuelle Studie zeigt.

Bei der Baloise Versicherung AG können alle Mitarbeitenden zehn Prozent ihrer Arbeitszeit für die Weiterbildung einsetzen, meist direkt am Arbeitsplatz. Möchte jemand ein neues Thema oder eine neue Technologie lernen oder ausprobieren, so kann sie oder er dafür eine Gold Card im Wert einer halbtägigen Auszeit einsetzen. Wann und wie diese Gold Card verwendet wird, liegt in der Selbstverantwortung der Mitarbeitenden. «Es gilt, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Lernen überhaupt möglich ist, indem zum Beispiel explizit Zeit zum Lernen zur Verfügung gestellt wird», sagt Pascal Bonny, Leiter Informatik bei der Baloise Versicherung AG. Das dürfe keinesfalls nur als Lippenbekenntnis erfolgen, so Bonny.

Verständnis und Praxis des Lernens in der digitalen Transformation

Pascal Bonny ist einer der Teilnehmenden der Studie «Lernen in der Arbeitswelt 4.0» des IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW, welche diesen Frühling publiziert wurde. Die Studie umfasst eine Online-Befragung von 174 Führungskräften und Human-Resources-Managerinnen und -Managern sowie Interviews mit 12 Führungspersonen und Fachpersonen aus HR und Personalentwicklung von Unternehmen in der Schweiz. Themenschwerpunkte beider Erhebungen: Wie erleben die Befragten Lernen in Organisationen aktuell, und wie schätzen sie die Zukunft des Lernens ein? Wie verändern sich das Verständnis und die gelebte Praxis von Lernen vor dem Hintergrund der digitalen Transformation? Und inwiefern ändern sich die Bedürfnisse und Erwartungen an das Lernen im Unternehmen?

«Die Ansprüche der Mitarbeitenden bezüglich Weiterbildung sind grösser geworden, und die Veränderungen in der Arbeitswelt erfordern ständiges Lernen.»

Gabriela Brönimann, Leiterin Personalentwicklung und stellvertretende Leiterin HR beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF

Führungskräfte sind gefordert

«Führungskräfte müssen sich heute vermehrt mit der Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden befassen», sagt auch Gabriela Brönimann. Die Teilnehmerin der Studie ist Leiterin Personalentwicklung und Ausbildung sowie stellvertretende Leiterin HR beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. «Es genügt nicht mehr, einfach nur den Besuch eines Kurses zu bewilligen. Die Ansprüche der Mitarbeitenden bezüglich Weiterbildung sind grösser geworden und die Veränderungen in der Arbeitswelt erfordern ständiges Lernen», so Brönimann.

Führungskräfte sind gleich mehrfach gefordert: Sie müssen als Coach und Lernbegleitende die Mitarbeitenden begleiten und unterstützen, Selbstverantwortung und Selbstorganisation fördern und auch die entsprechenden Arbeitsbedingungen und Lernkulturen schaffen.

Lernen als Treiber der Innovation

Das Lernen wird dabei als Innovationstreiber für das ganze Unternehmen verstanden: «Lernen in der Arbeitswelt 4.0 ist ein möglichst aktiver und sozialer Prozess, der bestmöglich an eine konkrete Herausforderung, eine Problemstellung oder ein Bedürfnis gebunden ist», sagt Anna-Lena Majkovic, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Beraterin am IAP. Sie hat zusammen mit Ellen Gundrum und weiteren Forscherinnen die Studie verfasst. Gelernt wird in vielfacher Hinsicht: in traditionellen und neuen Aus- und Weiterbildungsformaten, direkt im Arbeitsprozess oder privat. 

In der Umfrage zeigte sich, dass die grosse Mehrheit der Befragten das Lernen bereits als integralen Bestandteil des beruflichen Alltags betrachtet und auch ein Mitspracherecht hat, in welchem Bereich sie sich weiterbilden will. Traditionelle Lernformen wie Präsenzkurse und Lernen im beruflichen Alltag sind weiterhin sehr verbreitet. Bei weiteren – auch eher traditionelleren Lernformen – wie Veranstaltungen zum Erfahrungsaustausch und Coaching/Mentoring schätzt etwas mehr als die Hälfte der Befragten, dass diese in Zukunft häufiger eingesetzt werden. Insbesondere bei Blended Learning – also der Kombination aus Präsenzkursen und digitalen Lernformaten – prognostiziert eine deutliche Mehrheit der Befragten, dass sich dessen Nutzung in den nächsten fünf Jahren noch verstärken wird.

«Lernformen, welche Anwenderinnen und Anwender miteinander vernetzen, gewinnen an Bedeutung.»

Anna-Lena Majkovic, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Beraterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie

In der Umfrage zeigte sich, dass die grosse Mehrheit der Befragten das Lernen bereits als integralen Bestandteil des beruflichen Alltags betrachtet und auch ein Mitspracherecht hat, in welchem Bereich sie sich weiterbilden will. Traditionelle Lernformen wie Präsenzkurse und Lernen im beruflichen Alltag sind weiterhin sehr verbreitet. Bei weiteren – auch eher traditionelleren Lernformen – wie Veranstaltungen zum Erfahrungsaustausch und Coaching/Mentoring schätzt etwas mehr als die Hälfte der Befragten, dass diese in Zukunft häufiger eingesetzt werden. Insbesondere bei Blended Learning – also der Kombination aus Präsenzkursen und digitalen Lernformaten – prognostiziert eine deutliche Mehrheit der Befragten, dass sich dessen Nutzung in den nächsten fünf Jahren noch verstärken wird.

Trend zum eigenverantwortlichen Lernen

Die meisten Befragten sind der Meinung, dass sich vor dem Hintergrund agiler Arbeitswelten und selbstorganisierter Teamarbeit auch die Verantwortung für das Lernen immer mehr auf einzelne Mitarbeitende verlagert. Das fordert spezielle Lernkompetenzen für die Arbeitswelt 4.0: Mehrheitlich wurden in der Umfrage Selbstreflexion, Offenheit für Veränderungen sowie die Neugierde, etwas Neues auszuprobieren, genannt. Dieser Trend zum eigenverantwortlichen Lernen ist für das Unternehmen aber auch anspruchsvoll, gilt es doch, Kompetenzen und Wissen aller Mitarbeitenden im Sinne der Geschäftsziele zu entwickeln: «Die konsolidierte Sicht zu erhalten, wohin sich die Organisation bewegt, wird damit definitiv nicht einfacher», erklärt Informatikleiter Bonny.

Soziales Element des Erfahrungsaustauschs entscheidend

Doch die Rahmenbedingungen für das Lernen in der Organisation könnten besser sein. Zum Beispiel gaben die Befragten an, aus dem Erfahrungsaustausch mit anderen am meisten gelernt zu haben. Doch im Gegensatz dazu wird eher zu Hause oder in der Freizeit als am Arbeitsplatz gelernt – also allein und selbstgesteuert. Digitale Kommunikationstools vereinfachten die Kommunikation, indem sie die örtlichen Grenzen auflösten, so Majkovic.

Doch das soziale Element im Lernprozess sei wichtig: «Das digitale Arbeiten führt dazu, dass aufgrund von Remote Work der spontane Austausch weniger stattfindet», so Majkovic. «Deshalb werden Lernformen, welche Anwenderinnen und Anwender miteinander vernetzen, an Bedeutung gewinnen. Damit lässt sich selbstgesteuertes Lernen durch sozialen Erfahrungstausch ergänzen.» Wissensgemeinschaften, sogenannte Communities of Practice, oder Online-Communities sind Beispiele für Netzwerke des Wissensaustauschs und Lernens in Organisationen.

«Der tägliche operative Druck macht es manchmal schwierig, sich die Zeit zum Lernen rauszuschneiden.»

Pascal Bonny, Leiter Informatik bei der Baloise Versicherung AG

Das grösste Hindernis für das Lernen in der Arbeitswelt 4.0 ist jedoch der Faktor Zeit: «Die Ergebnisse der Studie betonen das Dilemma, sich aufgrund zunehmender Beschleunigung und Arbeitsdichte überhaupt Freiräume für individuelles Lernen nehmen zu können», sagt Majkovic. Fast die Hälfte der Befragten gaben an, dass eine zu hohe Arbeitsbelastung kaum zeitliche Ressourcen für die berufliche Weiterentwicklung ermöglicht, und noch weniger Organisationen verfügen über ein Budget an Zeit oder Geld für Lernen und Weiterbildung. «Der tägliche operative Druck macht es manchmal schwierig, sich diese Zeit rauszuschneiden oder eine Gold Card umzusetzen», sagt auch Informatikleiter Pascal Bonny.

Lernen und Weiterbildung fördern

Als Fazit aus der Studie «Lernen in der Arbeitswelt 4.0» des IAP Institut für Angewandte Psychologie haben die Autorinnen einige Anregungen für Weiterbildungsverantwortliche formuliert:

  • Lernen in Arbeitsprozessen operationalisieren.
  • Zufälligen Austausch institutionalisieren: analoge und digitale Gefässe für Erfahrungsaustausch schaffen.
  • Mobile Learning weiter ausbauen: damit Lernen immer und überall stattfinden kann.
  • Laufbahnperspektiven aufzeigen: In Zeiten von Fachkräftemangel werden Entwicklungsmöglichkeiten zum strategischen Wettbewerbsvorteil.
  • Lernkultur entwickeln und profilieren: denn die strategische Verankerung von Lernen wird erfolgskritisch.
  • Lernförderliche Kompetenzen gezielt weiterentwickeln: zum Beispiel Selbstreflexion.
  • Klare Aufgabenverteilung zwischen Human Resources/Personalentwicklung und Führung hinsichtlich Lernen und Laufbahnentwicklung.

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