Agil Oder fragil

«Man sollte Alter als wertvolle Ressource sehen»

22.03.2022
1/2022

Altern ist vielfältig und vielschichtig, sagt Katharina Fierz, Projektleiterin des Schwerpunkts Angewandte Gerontologie an der ZHAW. Im Interview spricht sie über die grössten Herausforderungen und Potenziale der alternden Gesellschaft, gesundes Altern sowie Altersforschung an der ZHAW.

Frau Fierz, was verbinden Sie mit dem Thema «Alter»?

Katharina Fierz: Komplexität ist das Erste, was mir da in den Sinn kommt. «Die Alten» gibt es nicht als einheitliche Gruppe. Das heutige Altern zeichnet sich durch ganz verschiedene Aspekte aus. Neben den verschiedenen Altersphasen – etwa die der älteren Erwerbstätigen, der «jungen Alten» oder der Hochbetagten – sehen wir sehr unterschiedliche Lebensentwürfe von Babyboomern, Traditionalisten oder LGBTI. Auch die Lebenslagen sind verschieden je nach Bildungsnähe beziehungsweise Einkommen, zudem weisen Alterungsverläufe eine grosse Diversität auf: Es gibt Menschen, die können unabhängig 100 Jahre alt werden, andere sind schon früh pflegebedürftig.

Wo sehen Sie die Potenziale einer alternden Gesellschaft?

In Erfahrung, Wissen, Kompetenzen, Weisheit. Viele ältere Menschen haben den starken Wunsch, weiter zum Bruttosozialprodukt beizutragen durch bezahlte oder freiwillige Arbeit. Die Gesellschaft könnte davon profitieren, wenn die älteren Arbeitnehmenden als «Golden Mentors» im Prozess der Wissensgenerierung blieben. Es gibt verschiedene Modelle der generationenübergreifenden Zusammenarbeit. Jemand könnte mit Blick auf die Pensionierung Verantwortung ganz oder teilweise abgeben, sein Wissen und seine Kompetenzen aber weiter einbringen. Ich denke da an «seniors@work», ein Jobnetzwerk für lebenserfahrene 60plus. Das Potenzial der älteren Generation ist zudem die frei verfügbare Zeit nach der Pensionierung, im Gegensatz zur engen Einbindung und Taktung während der Zeit der Berufstätigkeit.

Zur Person

Katharina Fierz leitet seit 2018 das Institut für Pflege an der ZHAW. Die 60-jährige promovierte Pflegewissenschaftlerin ist zudem Projektleiterin des interdepartementalen Schwerpunktes Angewandte Gerontologie an der ZHAW, der vor gut einem Jahr initiiert wurde, nach der Übernahme der Spezialsammlung von Pro Senectute Schweiz rund um das Thema Alter.

Haben heutige Rentnerinnen und Rentner wirklich noch Zeit? Wenn man sich mit ihnen verabreden will, sind sie ja oft zu beschäftigt.

Die verbleibende Lebenszeit will sinnvoll genutzt sein! Meine Patentante hat nach ihrer Pensionierung in Integrationsklassen Schulkinder betreut und mit ihnen rechnen geübt. Das hat ihr grosse Freude bereitet. Andere sind als Mentorinnen und Mentoren oder als Projektleitende im Einsatz. Initiativen wie «Rent a Rentner» bieten eine frei planbare Möglichkeit, Kompetenzen und Erfahrung sinnstiftend einzusetzen. Bei dieser Plattform kann man ältere Menschen mit besonderen Fähigkeiten aufbieten, etwa für Gartenarbeit oder um rare alte Geräte wieder zum Laufen zu bringen, wie gusseiserne Bernina-Nähmaschinen oder einen Citroën DS. Heute gibt es kaum mehr Fachleute, die dafür über notwendiges Wissen und Fertigkeiten verfügen. Alter sollte als wertvolle Ressource erkannt werden und nicht als Stigma.

In der Politik scheint Alter kein Stigma zu sein. Silbergraue Haare sind dort keine Seltenheit.

Leider spiegelt sich das weder in altersgerechter noch von Weisheit geprägter innovativer Politik.

An der ZHAW wurde angesichts dieses komplexen Themas der Schwerpunkt Angewandte Gerontologie initiiert. Weshalb?

Wenn man die Komplexität der älter werdenden Gesellschaft anschaut, dann sind Lösungen auf individueller, systemischer sowie gesellschaftlicher Ebene gefragt. Stichworte sind hier Altersvorsorge, Gesundheitsversorgung, betreuerische Versorgung, soziale Teilhabe, Freiwilligenarbeit, Angehörigenarbeit, Digitalisierung, Wohnen oder auch die Arbeitsmarktbeteiligung von älteren Menschen. Anhand dieser Aufzählung wird deutlich: Der Bedarf an Lösungsansätzen ist enorm und erfordert Interdisziplinarität und Interprofessionalität. Da hat die ZHAW mit ihren acht ganz verschiedenen Departementen ein Alleinstellungsmerkmal und bietet eine ausgezeichnete Ausgangslage. Schon bisher wurde an der ZHAW in vielen Projekten zu diesen Themen geforscht, verschiedenste Departemente bieten Dienstleistungen, Weiterbildungsstudiengänge und Ausbildungsmodule im Bereich Alter und Altern an. Künftig wollen wir die Akteurinnen und Akteure intern und extern verstärkt vernetzen, womit wir Organisationen, Unternehmen, Stiftungen, Verbände sowie Vereinigungen, wie beispielsweise Pro Senectute, vertieft einbinden können.

Gesundes Altern fängt in der Kindheit an. Sind wir da auf dem richtigen Weg mit der Altersforschung?

Dieser Gedanke aus der Prävention ist wichtig. Doch Vorsicht: Wird ‘gesund’ normativ, kann dies zu einer Zweiklassengesellschaft und zu Diskriminierung führen. Es ist ein Privileg, wenn man sich schon in der Kindheit auf ein gesundes Alter einstellen und sich als Erwachsener ein Umfeld schaffen kann, das gesundes Altern zulässt. Zudem gibt es neben den sozialen und sozioökonomischen viele weitere Einflüsse, wie beispielsweise genetische, biologistische oder Umweltfaktoren, die alle stimmen müssen, damit gesundes Altern möglich ist . Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Wechselwirkung von Armut und Krankheit: Einerseits ist Armut erwiesenermassen ein Krankheitsrisiko. Andererseits sind die strikte Trennung zwischen Pflege und Betreuung – zu Letzterer zählen Dienstleistungen wie Waschen, Einkaufen, Kochen, Fahrdienste –­  und der hohe Anteil an den Betreuungkosten, die von den Betroffenen selbst getragen werden müssen, ein Armutsrisiko. Die Schweiz gehört zu den Ländern, in denen Privatpersonen für Betreuung am meisten aus der eigenen Tasche zahlen müssen. 

Weshalb fürchten Sie eine Zweiklassengesellschaft?

Irgendwann hat die Werbung das «Alter», das heisst finanzstarke und mobile ältere Menschen, entdeckt. Sie gehen auf Kreuzfahrten, nutzen Wellnessangebote – welche Aktivitäten auch immer. Es wird suggeriert, dass sie das können, weil sie z. B. Spurenelemente einnehmen, sich gesund ernähren etc. Die Gefahr besteht, dass das von der Werbung vermittelte Bild der im Pensionsalter gesunden, beweglichen und aktiven Person zur Bildung einer Norm für alle beiträgt: einerseits im Hinblick auf das, was man sich nach der Pensionierung alles leisten können soll, andererseits den Gesundheitszustand betreffend, nach dem Motto: Wenn ich alles richtig mache, werde ich nicht krank.

«Es wäre unfair zu sagen, man ist selbst schuld, wenn man im Alter krank ist. Healthy Ageing soll nicht normativ verstanden werden.»

Ich möchte hier nochmals betonen: Wir können zwar selbst bestimmen beziehungsweise planen, wie jede und jeder Einzelne gesund altert, was wir jedoch nicht selbst «bestimmen» können, ist, ob wir gesund altern. Die Kontrolle über den Alterungsprozess, die Gesundheit und Gesundheitsrisiken ist von vielen, nur zum Teil beeinflussbaren Faktoren abhängig, wie beispielsweise dem sozioökonomischen Status oder dem Wissen um ursächliche Faktoren einer Erkrankung, welches das präventive Gegensteuern überhaupt erst ermöglicht. Andere Gebrechen werden durch einen Unfall verursacht sowie durch körperlich anstrengende, langjährige, gleichförmige Arbeit. Es wäre also unfair zu sagen, man sei selbst schuld, wenn man im Alter krank ist. Healthy Ageing darf nicht normativ und absolut verstanden werden.

«Im Gesundheitswesen könnten Millionen gespart werden, wenn die Erkenntnis konsequent umgesetzt würde, dass die Betreuung chronisch kranker Menschen interprofessionelle Kompetenzen und Kontinuität erfordert.» 

Was sind aus Ihrer Sicht die grössten Herausforderungen der alternden Gesellschaft? 

Ganz klar diese Vielfalt des Alterns, aber auch eine qualitativ hochwertige, bezahlbare Gesundheitsversorgung und die Teilhabe älterer Menschen am gesellschaftlichen Leben.

Wie wirkt sich die alternde Gesellschaft auf das Gesundheitswesen beziehungsweise die Gesundheitsversorgung aus?

Es braucht mehr professionelle Leute, denn in der alternden Gesellschaft nehmen chronische Krankheiten zu. Auf die Betreuung von chronisch kranken Menschen ist das Gesundheitssystem aber gar nicht eingestellt, obwohl man schon seit über 20 Jahren davon spricht. Hier bräuchte es die Koordination von Versorgungsleistungen, Kontinuität von Betreuung, zum Beispiel auch dann, wenn jemand in einer akuten Phase einer chronischen Erkrankung ins Spital kommt. 

Wie könnte kontinuierliche Betreuung konkret aussehen?

Man macht beispielsweise gute Erfahrungen mit regelmässigen Telefonanrufen, Videoanrufen oder aufsuchenden Besuchen. Im Gesundheitswesen könnten Millionen gespart werden, wenn die Erkenntnis konsequent umgesetzt würde, dass die Betreuung chronisch kranker Menschen interprofessionelle, hohe medizinische Kompetenzen, eine spezielle Systematik und Kontinuität erfordert. Advanced Practice Nurses, Ergo- und Physiotherapeutinnen und -therapeuten oder Hebammen können beispielsweise gesundheitliche Probleme frühzeitig erkennen und, mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet, geeignete Massnahmen ergreifen. Sie wissen einerseits über chronische Erkrankungen und andererseits über das Leben mit diesen gut Bescheid. Die Neuausrichtung des Gesundheitswesens oder der Gesundheitsversorgung wäre absolut notwendig und würde Entlastung bringen – auch finanziell.

Weshalb geschieht das nicht?

Stattdessen versucht man, kurzfristig Kosten zu sparen, indem immer mehr diplomierte Fachkräfte ersetzt werden durch weniger gut ausgebildetes Personal. Das führt zu Qualitätseinbussen. Auch Gesetze und berufsspezifische Regelungen behindern einen Fortschritt, beispielsweise fehlende Entscheidungskompetenzen. 

Wo sollte es zum Beispiel mehr Entscheidungskompetenzen geben?

Würde man das Personal in der Langzeitpflege spezifischer ausbilden und mit entsprechenden Entscheidungskompetenzen ausstatten, dann könnte man, wie Studien zeigen, Millionen sparen. Häufig ist das Personal angesichts unerwarteter gesundheitlicher Veränderungen bei ihnen anvertrauten Bewohnerinnen und Bewohnern verunsichert oder überfordert, schickt eine Heimbewohnerin lieber als Notfall ins Spital. Eine neuere Studie aus der Schweiz zeigt auf, dass vermeidbare Hospitalisationen aus der stationären Langzeitpflege das Gesundheitswesen jährlich 100 Millionen kosten; 42 Prozent dieser Spitaleinweisungen wären vermeidbar.

«Ein Laden als Treffpunkt gefällt mir fast noch besser als ein Park als Treffpunkt.» 

Weshalb zählen Sie die Teilhabe zu den grössten Herausforderungen?

Die Herausforderung ist, ausserordentlich diverse Gruppen von älteren Menschen nicht aus dem sozialen Leben und der Gesellschaft auszuschliessen, sondern gemäss ihren Bedürfnissen einzuschliessen. Die Digitalisierung spielt hier eine wichtige Rolle. Ohne Computerkenntnisse ist die Teilhabe heutzutage kaum mehr möglich. Wenn man als «Digital Immigrant» nicht schon im Beruf, sondern erst mit 70 oder 80 diese Tools und Möglichkeiten kennenlernt, dann ist das eine riesige Herausforderung, möglicherweise eine Hürde für soziale Teilhabe.

«Wen kümmern die Alten? — Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft» hat der deutsche Sozialexperte Thomas Klie 2019 sein Buch betitelt: Sind wir da schon weiter?

2019 ist ja noch nicht so lange her. Caring Communities sind ein Ansatz, der auch bei uns Fuss fasst. Während des ersten Lockdowns wurde über zahlreiche Initiativen zur Ermöglichung sozialer Teilhabe berichtet, dies zu einer Zeit, in der sich die alten Menschen kaum aus ihren Wohnungen trauten. Ich bin der Überzeugung, dass es viele Menschen mit einem sozialen Gewissen gibt. In meinem Quartier in Zürich zum Beispiel gibt es einen Einkaufsladen, der für die Quartierbewohnerinnen und -bewohner ein sozialer Treffpunkt ist. Das Ladenbesitzerehepaar kümmert sich um die ältere Kundschaft: Ein «Guten Tag, wie geht es heute?» reicht schon, um zu erfahren, wie es um jemanden steht. Taucht eine Person, die sonst täglich vorbeikommt, mehrere Tage nicht auf, dann fällt das den Ladenbesitzern auf und sie rufen an oder gehen vorbei. Ein Laden als Treffpunkt gefällt mir fast noch besser als ein Park als Treffpunkt.

Glossar

Gerontologie ist wissenschaftlich basierte Alterskunde. Sie beschäftigt sich mit Phänomenen des Alterns körperlicher, psychischer, sozialer, historischer sowie kultureller Art und sucht nach Lösungsansätzen für spezifische Fragestellungen.

Geriatrie bezeichnet die Altersheilkunde, die sich mit den Krankheiten alternder Menschen beschäftigt.

Advanced Practice Nurses: Diplomierte Pflegefachpersonen mit MSc Nursing werden international als «Advanced Practice Nurses» (APN) bezeichnet, wenn sie eine vertiefte pflegerische Expertise besitzen, in komplexe Entscheidungsprozesse involviert sind und ihre Kompetenzen in erweiterter Verantwortlichkeit in der klinischen Praxis ausüben. Auch andere Gesundheitsfachpersonen aus Ergotherapie, Pflege und Physiotherapie in Advanced-Practice-Rollen sowie Hebammen tragen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung in interprofessionellen Settings bei und können die Veränderungen im Gesundheitswesen gestalten. Um eine Advanced Practice Rolle übernehmen zu können ist ein entsprechender MSc Voraussetzung.

Forschen für gesundes Altern: Das Thema Altern hält für Gesundheitsfachpersonen zahlreiche Herausforderungen bereit. Wie können ältere chronisch kranke Menschen versorgt werden? Wie kann die Lebensqualität mit neuen Technologien verbessert werden? Was bedeutet ein höheres Rentenalter für die Gesundheit? Was können wir von anderen Ländern in puncto Prävention lernen? Wie kann man Stürze vermeiden und Symptome von Demenzkranken besser erkennen?  

↘ Antworten im Forschungsbericht zum Thema Altern des ZHAW-Departements Gesundheit

a+ Swiss Platform Ageing Society

Mit der a+ Swiss Platform Ageing Society wollen die Akademien der Wissenschaften Schweiz (a+) als mandatierende und die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) als federführende Organisationen einen kontinuierlichen Austausch zwischen allen mit dem demografischen Wandel befassten Akteurinnen und Akteuren in der Schweiz ermöglichen. Damit werden die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis gefördert, gemeinsame interdisziplinäre Projektentwicklungen angestossen sowie Verbindungen zwischen internationalen und nationalen Initiativen gestiftet bzw. ausgebaut. Die ZHAW ist seit 2017 Mitglied bei der a+ Swiss Platform Ageing Society. An der Hochschule besteht eine interdepartementale Arbeitsgruppe a+, die eng mit dem Schwerpunkt für Angewandte Gerontologie zusammenarbeitet. Kontakt: Isabel Baumann; isabel.baumann@zhaw.ch

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