Nach dem Krieg ist vor der Reform

21.06.2022
2/2022

Geht die Ukraine auch aus diesem Krieg als unabhängiger Staat hervor, stehen dennoch grosse Herausforderungen an: Das Land muss nicht nur den Wiederaufbau angehen, sondern auch umfassende Reformen vornehmen. ZHAW-Osteuropaexperte Christopher Hartwell weiss, welche Veränderungen am dringendsten sind. Der amerikanische Ökonom arbeitet mit Fachleuten aus der Ukraine und Polen derzeit eine Reformvorlage aus.

Wie zäh die Ukrainer und Ukrainerinnen den russischen Truppen Widerstand leisten, hat in den vergangenen Monaten viele überrascht, auch Christopher Hartwell, Osteuropaexperte an der ZHAW. «Dass die Ukraine nicht innerhalb von 72 Stunden besiegt war, hat alle anderen überraschenden Wendungen in diesem Krieg überhaupt erst bewirkt.» Denn je länger die Ukraine der russischen Invasion standhalte, desto mehr steige auch der Druck auf den Westen, einzugreifen. «Hätte sich das Land schon nach wenigen Tagen ergeben und Russland eine Marionettenregierung eingesetzt, hätten sich Europa und die Vereinigten Staaten wohl einmal mehr weitgehend rausgehalten.»

Dezentralisierung als wichtigstes Reformziel

Doch selbst nach Kriegsende dürften auf die Bevölkerung einer unabhängigen Ukraine erst einmal harte Zeiten zukommen. Das Land brauche eine Art «Marshallplan», ein Massnahmenpaket, das seinen Wiederaufbau vorantreibe und das Land für die Zukunft festige und stärke, sagt Hartwell. Der Leiter des International Management Institute an der ZHAW School of Management and Law hat vor einigen Jahren in seinem Buch «Two Roads Diverge: The Transition Experience of Poland and Ukraine» den unterschiedlichen Weg der Wirtschaft der beiden Länder seit dem Ende des Kommunismus aufgezeichnet. Während Polen auf mehr als ein Vierteljahrhundert ökonomischen Wachstums zurückblicken könne, habe sich die in so vielerlei Hinsicht ähnliche Ukraine immer wieder in politischen Unruhen verheddert. Der wesentliche Unterschied, so argumentiert Hartwell, liege in der sträflichen Vernachlässigung von Bereichen wie Eigentumsrecht oder Handel in der Ukraine, die für eine freie Marktwirtschaft unabdingbar seien. 

Gemeinsam mit Fachleuten aus der Ukraine und Polen arbeitet Hartwell derzeit an einer Reformvorlage für die Ukraine. Sie fusst im Wesentlichen auf drei Säulen, davon die wichtigste: Dezentralisierung. «Je weniger Macht in Kiew konzentriert ist», betont der ZHAW-Forscher, «desto eher lösen sich auch Probleme wie Korruption und Überregulierung.» Schon die Maidan-Revolution 2014 habe gezeigt, dass sich die ukrainische Bevölkerung spontan und organisch zu organisieren wisse, mehr noch veranschauliche dies nun der Krieg: «Dass sich die Ukraine so lange gegen die Invasion behaupten konnte, liegt vornehmlich an ihren mobilen, dezentralen und flexiblen Einheiten, die sich so rasch bilden wie auflösen lassen.» Die russischen Truppen dagegen seien strikt hierarchisch organisiert; dass sie immer mehr Generäle im Krieg verlören, mache ihnen spürbar zu schaffen.

Eigentumsrechte verbessern

Das Land brauche, zweitens, dringend bessere Eigentumsrechte und einen liberaleren Grundstücksmarkt, fügt Hartwell an. Zwei Jahrzehnte lang sei es der Bevölkerung untersagt gewesen, landwirtschaftliches oder sonst eingezontes Land zu veräussern. Vergangenes Jahr habe Präsident Wolodimir Selenski das Moratorium aufgehoben, seither sei der Verkauf zumindest an Einheimische möglich. Politikerinnen und Politiker hätten lange von dieser Besitzbindung profitiert und stets Wege gefunden, sie zu umgehen. «Der Staat sollte sich künftig nicht mehr derart einmischen können.»

Justizsystem umfassend reformieren

Drittens muss das Justizsystem der Ukraine einer umfassenden Revision unterzogen werden. Selenski habe vor dem Krieg nicht genug für dessen Unabhängigkeit getan. Doch gerade etwa Eigentumsrechte könnten nur durchgesetzt werden, wenn sich hier ganz grundsätzlich etwas ändere, kritisiert Hartwell. Das kleine Estland könnte hier als Vorbild dienen: Dort habe man einst jede Richterin und jeden Richter im Land entlassen mit der Aufforderung, sich erneut für zu bewerben. Die Mehrheit sei auch wieder angestellt worden, so Hartwell. «Die korruptesten, inkompetentesten und eng mit dem Kommunismus verbundenen Mitglieder des Justizapparats, die nicht offen waren für Veränderungen, mussten nun draussen bleiben.» Gelinge das einem Staat, in dem jeder jeden kenne, sollte das für ein grosses Land wie die Ukraine erst recht möglich sein.

«In den Fluren unseres Thinktanks brachen die Menschen in Gelächter aus, als ihnen klar wurde, wie mild die Sanktionen ausfallen würden.»

Christopher Hartwell, Leiter des International Management Institute

Doch noch ist das Ende des Kriegs nicht absehbar. Dass der Westen die Sanktionen gegen Russland inzwischen deutlich verschärft hat, begrüsst Hartwell deshalb. Gerade das Einfrieren der Währungsreserven der russischen Zentralbank sei ein beispielloser Schritt. «Dass Russland seine Schulden bald nicht mehr bezahlen kann, dürfte Putin empfindlich treffen.» Dieser habe sich immer als Hüter der Stabilität gesehen und sich von den chaotischen neunziger Jahren des Landes abgrenzen wollen.

Die wirkungsvollste Sanktion steht weiter aus

Dennoch bleibt der Ökonom skeptisch, was die Wirkung wirtschaftlicher Sanktionen betrifft. Nur zu gut erinnert sich Hartwell an die Reaktionen der russischen Bevölkerung 2014 auf die Drohungen des Westens nach der Annektierung der Krim. Hartwell, der viele Jahre in Osteuropa gelebt hat, auch in der Ukraine, wohnte damals in Moskau und leitete einen wissenschaftlichen Thinktank. Die anfängliche Sorge über die Folgen für das Land habe innert Kürze in erleichterte Heiterkeit umgeschlagen, erzählt er. «In den Fluren unseres Thinktanks brachen die Menschen in Gelächter aus, als ihnen klar wurde, wie mild die Sanktionen ausfallen würden.» Die Popularität Putins habe einen Schub erhalten.

Die wirkungsvollste Sanktion dürfte zudem weiter auf sich warten lassen: die vollständige Abkehr von russischem Gas. Besonders für Deutschland, aber auch für Österreich, Italien oder Ungarn wäre der Preis für einen solchen Schritt zu hoch, glaubt Hartwell. «Wer als Politikerin oder Politiker nun ein paar harte Jahre ankündigen muss, hätte wohl kaum grosse Chancen auf eine Wiederwahl.»

«Ein Waffenstillstand würde höchstens eine Verschnaufpause für die russischen Truppen bedeuten.»

Christopher Hartwell, Osteuropaexperte der ZHAW School of Management and Law

Gleichzeitig habe der Westen begonnen, mehr Waffen in die Ukraine zu liefern. Für Hartwell ist klar: «Die Ukraine muss die russischen Truppen selbst in die Schranken weisen und diesen Krieg für sich entscheiden.» Vor einigen Monaten vollkommen unrealistisch, sei ein solches Szenario heute zumindest denkbar. Alles andere würde einmal mehr ein labiles Gleichgewicht bedeuten, in dem es nur eine Frage der Zeit sei, bis Russland wieder zu Kräften komme und erneut angreife. «Möglicherweise nimmt es dann nicht nur die Ukraine ins Visier, sondern auch Gebiete wie Transnistrien in der Republik Moldau», gibt Hartwell zu bedenken. Pläne, sich den Meerzugang der gesamten Region zu sichern und die Ukraine komplett zum Binnenstaat zu machen, existierten bereits seit den neunziger Jahren.

Wenig Hoffnung auf Waffenstillstand

Auf einen Waffenstillstand, wie ihn vor allem Deutschland und Frankreich derzeit anstreben, setzt  Hartwell wenig Hoffnung. Russland breche den Waffenstillstand, der 2014 im Rahmen des Minsker Abkommens vereinbart wurde, seit Jahren täglich, sagt der Wissenschaftler. Es gebe keinen Anlass zu glauben, dass dies nun anders wäre. «Ein Waffenstillstand würde höchstens eine Verschnaufpause für die russischen Truppen bedeuten.» Eine entscheidende Wende zugunsten der Ukraine könnten einzig mehr Waffen herbeiführen – daran gibt es für Hartwell keinen Zweifel. 

Die Schweiz: Entschiedene Worte, aber nicht immer entschiedene Taten

«Auch wenn die Schweiz nicht in den Krieg eingreift, sollte man ihre Rolle nicht unterschätzen», sagt ZHAW-Osteuropaexperte Christopher Hartwell. Die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten, aber auch offizielle Stellungnahmen der Schweiz, die das Vorgehen Russlands klar verurteilten, seien wichtige Signale. «Dass das Land einen kleinen Schritt vom bisherigen Verständnis von Neutralität abrückt, an dem es Hunderte von Jahren und vor allem im Zweiten Weltkrieg festgehalten hat, ist mehr als bemerkenswert.» Gleichzeitig halte die Schweiz an ihrer Rolle als neutraler Staat fest und versuche weiterhin, die Menschen für Friedensgespräche zusammenzubringen. 

Jachten wohlhabender Russen

Trotzdem hätte die Schweiz neben dem Fünfer eben gerne auch das Weggli, fügt der Leiter des International Management Institute der ZHAW sinngemäss an. Denn ganz verspielen möchte es sich das Land mit Russland nicht. Die Bemühungen etwa, die Jachten wohlhabender Russinnen und Russen zu beschlagnahmen und deren Anlagen einzufrieren, seien bisher eher bescheiden ausgefallen. «An Wissen würde es den zuständigen Behörden nicht fehlen», ist sich Hartwell sicher. «Die Bereitschaft hierzu ist aber ungleichmässig über die Kantone verteilt.» Zug etwa mit vielen Firmensitzen unter russischer Leitung dürfte sich schwerer damit tun, gegen seine guten Steuerzahler vorzugehen, als andere Kantone. 

Gelder der russischen Elite 

Dabei sei die Wahrscheinlichkeit, dass die russische Elite alle Gelder aus der Schweiz abziehe, nicht allzu gross, stünden dieser doch anderswo immer weniger Alternativen zur Verfügung, so der Forscher. Und selbst wenn, breche deswegen das Schweizer Bankensystem nicht zusammen.

Wünschenswert fände es Hartwell dennoch, dass das Land solche Anlagen bald loswürde – allerdings müsste dies etwa im Zuge internationaler Sanktionen geschehen. Das Vorgehen der Vereinigten Staaten, die russische Gelder beschlagnahmten, um sie für den Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen, verurteilt der amerikanische Ökonom scharf. «Das ist ein Angriff auf die Eigentumsrechte, die der Westen eigentlich hochhält.» Russland zu schlagen, indem man selbst zu russischen Methoden greife, könne nicht der Weg sein.

Sparsam mit Visa und Aufenthaltsbewilligung

Klare Haltung beziehen könnte die Schweiz nicht zuletzt, in dem sie Visa und Aufenthaltsbewilligungen an die einflussreiche russische Elite künftig nur noch äusserst sparsam vergebe. «Das wäre ein deutliches Zeichen, dass die Schweiz kein Schlupfloch bietet.»

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