Nahrungsmittel zwischen Territorium und Tank

21.06.2022
2/2022

Die Agrarpreise explodieren. Wegen des Krieges in der Ukraine droht eine Hungerkrise, warnt die UNO. Das wäre die dritte in 15 Jahren. Das Ernährungssystem bedarf einer dringenden Reform, um die Weltbevölkerung zu ernähren und die Umwelt zu schonen. Sind Lebensmittel aus dem Tank die Lösung?

Bisher glaubten wir, in der Landwirtschaft alles im Griff zu haben: Mit Pflanzenschutz und mineralischen Düngemitteln, technologischen Möglichkeiten, Maschinen sowie modernen Monokulturen können wir die Lebensmittelherstellung kontrollieren und die Weltbevölkerung ernähren. Doch allmählich müssen wir erkennen, dass dies eine Illusion und die Welt doch viel komplizierter ist: Biologische Systeme und dynamische Witterungsverläufe lassen sich nicht einfach kontrollieren. Im Gegenteil: Die moderne Landwirtschaft droht global zu scheitern.

Die Herausforderungen

Infolge der wachsenden Bevölkerungszahlen sieht sich die Landwirtschaft einer steigenden Nachfrage ausgesetzt. Gleichzeitig unterliegt die gesamte Wertschöpfungskette einem zunehmenden Qualitäts- und Preisdruck. Trotz der Sensibilisierung für Fragen der Nachhaltigkeit ist die Herstellung landwirtschaftlicher Produkte von einer Preisoptimierung geprägt, die bis hin zu Warentermingeschäften reicht. Agrarprodukte werden zu Spekulationsobjekten.

Konzentrationen im Handel, technologische Möglichkeiten und das ökonomische Prinzip haben einen entsprechenden Anpassungsdruck in der Urproduktion ausgelöst. Dies führt vielerorts zu einer Konzentration der Flächen auf immer weniger Betriebe. Die Auswirkungen für die Bäuerinnen und Bauern sind global bedrohend.

Werk- und Wirkorientierung

Unter diesem Eindruck der Situation auf der Welt wächst in den reifen Volkswirtschaften das Bewusstsein für die Wirkung unseres Handelns und gleichzeitig die Sehnsucht nach einer intakten Umwelt. Durch die Verarbeitung von Agrarprodukten wird in Form von Lebensmitteln ein Werk geschaffen, das durch seine Herstellung eine Wirkung auf die Umwelt und die Konsumenten hat. Waren bisher die relevanten Fragen, die sich Konsumentinnen und Konsumenten stellen, etwa: Woher und von wem kommt das Lebensmittel? Wie wurde es hergestellt? Was ist enthalten? Wie wurde es gehandelt und wer hat was dafür erhalten? Kommen nun einige wesentliche Elemente hinzu: Gefragt wird auch: Verletzt die Herstellung oder das Produkt mich, meine Familie, andere Menschen, Haus- und Nutztiere oder die Umwelt?

«Insbesondere pflanzliche Zellkulturen bieten eine Chance, Umwelteffekte der Nahrungsmittelproduktion zu mildern und einen Prozessmusterwechsel im Agro-Food-System zu ermöglichen.»

Unser Planet, dieser einzigartige Ort im Weltraum, soll demnach als Gemeineigentum aller Lebewesen erhalten bleiben. Damit verbunden sind Erwartungen, dass  resiliente, regenerative landwirtschaftliche Systeme aufgebaut und gestärkt werden, die die Weltbevölkerung kostengünstig und vielfältig mit Nahrungs- und Genussmitteln versorgen und dabei den Lebensraum nicht nur für die Menschen erhalten. Was ist also die Lösung?  

Bierherstellung als Blaupause

Mehr Biodiversität ist ein Versuch, die vielfältigen Herausforderungen zu lösen, ein anderer die gezielte Pflanzenzüchtung bis hin zur genetischen Veränderung. Insbesondere pflanzliche Zellkulturen bieten eine Chance, Umwelteffekte der Nahrungsmittelproduktion zu mildern und einen Prozessmusterwechsel im Agro-Food-System zu ermöglichen. Die Bio-Technologie der Bierherstellung ist die Blaupause einer Zellkulturfabrik in Form einer «Kulturei». Durch die Biotransformation von Getreideinhaltsstoffen konnte ein Nahrungsmittel erzeugt werden, das mit zunehmendem Fermentationsgrad nicht nur eine hohe Energiedichte, sondern auch eine berauschende Wirkung hat – das Bier. 

Wie Zellkulturen entstehen

Die Herstellung pflanzlicher Zellkulturen basiert allgemein auf einem Kulturmedium, das im Wesentlichen aus Kohlenhydraten und Aminosäuren besteht. Hier ist die Zellkultur noch auf die territoriale landwirtschaftliche Erzeugung – womöglich regional und nachhaltig angebaut – angewiesen. Zuckerrüben und Hülsenfrüchte (Leguminosen) zum Beispiel produzieren diese Kohlenhydrate sowie andere wichtige Medienbestandteile wie Aminosäuren aus Wasser, Nährstoffen, Kohlendioxid (CO2) sowie Stickstoff ( N2) aus der Luft und mit Hilfe der Energie der Sonne.

Die Zellen für die Vermehrung werden aus dem Ursprungsgewebe der Pflanzen – beispielsweise der Kakaobohne – entnommen und ohne genetische Veränderung in eine Stammkultur überführt.

«Mehr vom Guten aus der Pflanze kann so für die Humanernährung bei Verminderung des Ressourcenverbrauchs bereitgestellt werden.» 

Danach findet die Vermehrung der Kulturen in einem speziellen Tank statt, in dem man die Umweltbedingungen beeinflussen kann: Temperatur, Gashaushalt, mechanische Bewegung, Licht und andere Faktoren können in diesem System genau überwacht und gesteuert werden. So können einfache Substrate wie Zucker und Aminosäuren biologisch in für die Humanernährung wichtige Moleküle aus dem sekundären Pflanzenstoffwechsel transformiert und veredelt werden. Mehr vom Guten aus der Pflanze kann so für die Humanernährung bei Verminderung des Ressourcenverbrauchs bereitgestellt werden.  Fehlproduktionen, verbunden mit Foodwaste, sowie Nebenströme bleiben die Ausnahme – alle Ströme werden zu Hauptströmen.

Vorteile gegenüber Freilandkulturen

Im Vergleich zu einem Freilandkultursystem, bei dem viele Faktoren, insbesondere das Klima, nicht beeinflussbar sind und nur unvollständig prognostiziert werden können, hat dieses Kultursystem einen entscheidenden Vorteil – es bleibt überschau- und damit kontrollierbar. Die so erzeugten Lebensmittelgrundstoffe erfüllen definierte und überwachte Eigenschaften und reduzieren damit Komplexität und den Ausschuss bei ihrer Verarbeitung und der Herstellung von Lebensmitteln.   

Im Reaktor können 12 bis 18 Ernten realisiert werden

Die Ernte der Zellkulturen ist im Vergleich zu Freilandkulturen mehrfach umsetzbar. Wo in besonders fruchtbaren Regionen zwei oder drei Ernten pro Jahr möglich sind, können im Reaktor heute 12 bis 18 Ernten realisiert werden. Diese Verdichtung erklärt den wesentlich geringeren Flächenbedarf, der dazu versiegelt werden muss. Ferner tritt keine Zerstörung der Biodiversität durch die monokulturelle Nutzung der Böden ein, vorausgesetzt, die Medien werden regenerativ, unter Einsatz der Mehrfelderwirtschaft produziert.

Die Vorteile der Zellkultur liegen neben einer intensiven Kontrolle der Kulturbedingungen, einschliesslich des Mediums, also in den Umwelteffekten. Missbrauch, Pestizideinsatz, Umweltkontaminationen und Transport entfallen oder sind zumindest deutlich besser kontrollierbar.

Nachteile für landwirtschaftliche Betriebe 

Die Lebensmittel aus dem Tank, die das Dilemma des Umweltverbrauchs möglicherweise mildern können, erzeugen jedoch gleichzeitig ein anderes: Die Situation der Urproduzentinnen und Urproduzenten wird durch die Bedrohung ihrer Lebensgrundlage verschärft. Durch den Einsatz der Zellkulturtechnik wird die landwirtschaftliche Produktion ergänzt, vielleicht sogar teilweise ersetzt. Die Nettowohlfahrtseffekte können nur positiv gehalten werden, wenn die Konsequenzen für die Bäuerinnen und Bauern in der landwirtschaftlichen Urproduktion berücksichtigt werden. Dort, wo genetische natürliche Ressourcen für Zellkulturen genutzt werden, muss für diese  ein Ausgleich erfolgen, der es ihnen ermöglicht, zu regionalen und lebensraumverträglichen Strukturen zurückzukehren.

Das Nagoya-Protokoll weist die Richtung. Es sieht unter anderem vor, dass diejenigen, welche genetische natürliche Ressourcen oder traditionelles Wissen, das sich darauf bezieht, bereitstellen, an den Vorteilen der Nutzung teilhaben sollen.

Regionale Kultureien

Der Aufbau von regionalen «Kultureien» in Verbindung mit einer nachhaltigeren Lebensmittelproduktion kann also einerseits den Fussabdruck für die Produktion vermindern und andererseits durch eine an der Produktion orientierte monetäre Transferleistung die Rückkehr zu einer regenerativen Landwirtschaft unterstützen.

Ob die Deterritorialisierung der Landwirtschaft durch pflanzliche Zellkulturen eine Lösung für die ganze Welt sein kann oder doch nur für die sogenannte erste Welt, muss sich weisen. Ohne das etablierte Ernährungssystem wird es aber so schnell wohl nicht möglich sein, die wachsende Weltbevölkerung vor Hunger zu bewahren. Dennoch braucht es eine dringende Reform der Lebensmittelproduktion und des ganzen Ernährungssystems, damit nicht noch mehr Menschen zu wenig zu essen haben oder ausgebeutet werden, und nicht zuletzt, damit die Umwelt nicht weiter zerstört wird.

Food  aus dem Labor

Zum Thema Nahrung aus dem Labor realisieren die ZHAW-Forschenden Regine und Dieter Eibl vom Institut für Chemie und Biotechnologie in Kooperation mit Tilo Hühn am Departement Life Sciences und Facility Management verschiedene Projekte zum Beispiel zu Schokolade.

Hier ein Einblick in die Schokoladenproduktion im Labor

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