
Nicht auf den Mund gefallen
Ob Kamala Harris, Pia Sundhage oder Evo Morales: Dana Widmer hat schon vielen interessanten Menschen ihre Stimme geliehen. Ist das Dolmetsch-Mikro an, läuft sie zur Höchstform auf.
Gegen Dana Widmer möchte man nicht in einer Quizshow antreten. Kaum jemand kennt die aktuelle Weltlage, die Kader von Sportteams und politische Debatten so gut wie sie. Seit rund 15 Jahren sitzt die ZHAW-Alumna nämlich berufsbedingt stundenlang vor dem Bildschirm und trägt als Respeakerin dazu bei, dass die Sendungen im Schweizer Fernsehen untertitelt werden. Respeaken bezeichnet die Art des Untertitelns, bei der eine Software eine Spracheingabe in Untertitel verwandelt. Sie wird vorwiegend zur Verschriftlichung von Live-Passagen eingesetzt. Die Respeakerinnen und Respeaker wiederholen auf Hochdeutsch, was gesagt wird, und diktieren dabei die Satzzeichen mit. Bei SRF werden die meisten Sendungen untertitelt – ein Service public für Menschen, die eine Hörbeeinträchtigung haben, kein Schweizerdeutsch verstehen oder sich unterwegs eine Sendung ohne Ton anschauen möchten. «Mit dem Respeaken habe ich bereits vor dem ersten Simultanunterricht im Dolmetschstudium angefangen», erzählt Widmer. «Es ist ein guter Einstieg ins Dolmetschen. Das gleichzeitige Zuhören und Nachsprechen ist eine Form von Multitasking – Shadowing genannt –, die sozusagen die Vorstufe zum Simultandolmetschen darstellt.»
Voller Enthusiasmus fürs Dolmetschen
Mit einem 55-Prozent-Pensum als Respeakerin stellt Widmer ihren Lebensunterhalt sicher. Daneben bleibt viel Flexibilität für ihre eigentliche Berufung, das Dolmetschen. «Einen Dolmetschauftrag würde ich nie als Arbeit bezeichnen», sagt sie, und man glaubt es ihr sofort. «Ich empfinde es nach über zehn Jahren noch als grosses Privileg, dass ich diesen Traum leben darf. Ich liebe alles daran – das Einarbeiten in immer neue Themenbereiche, das Spielen mit der Sprache, das Gestalten mit der Stimme, das Adrenalin, das Abliefern auf den Punkt. Für mich war schon zu Beginn des Übersetzerstudiums klar, dass ich nicht schriftlich übersetzen, sondern dolmetschen wollte», betont sie. Auch wenn es sich in beiden Fällen um das Übertragen der einen Sprache in die andere handelt, unterscheiden sich die Fähigkeiten, die dabei gefragt sind: Dolmetschen erfordert Improvisationstalent, sicheres Auftreten, ein enormes Allgemeinwissen und kognitives Multitasking. Beim schriftlichen Übersetzen hingegen hat man Zeit, aber es ist Perfektion gefragt. Recherchieren, optimieren, feilen an den Formulierungen. Direkt ins Dolmetschen einzusteigen, war jedoch zu Widmers Studienzeit nicht möglich, darum musste sie erst Übersetzen studieren.
«Trump zu dolmetschen, ist next Level. Bei ihm versagt eines der zentralen Werkzeuge von Dolmetschenden: die Plausibilitätskontrolle.»
Beide Studiengänge absolvierte sie mit Deutsch, Englisch, Spanisch und Französisch als Arbeitssprachen. «Auf dem Schweizer Privatmarkt sind aktive Sprachen wichtig, also dass man in beide Richtungen dolmetschen kann. Für internationale Organisationen hingegen dolmetscht man meist nur in die Muttersprache, da ist es von Vorteil, möglichst viele passive Sprachen zu haben», erklärt Widmer. Muss man zweisprachig aufgewachsen sein, um Dolmetscherin zu werden? «Einige der besten Dolmetschenden, die ich kenne, sind es nicht», antwortet sie. «Ich selbst bin es, dolmetsche aber hauptsächlich vom und ins Englische und arbeite weniger mit meiner zweiten Muttersprache Spanisch.» Aufgewachsen ist die Tochter eines Schweizers und einer Mexikanerin in der Berner Agglomeration. Diese Herkunft würde man ihr heute nicht mehr geben – nach über zwanzig Jahren in Zürich hat sie längst den Zürcher Dialekt angenommen und fühlt sich im Kreis 4 zu Hause. So sehr, dass sie ihn sogar in einem ihrer zahlreichen Tattoos verewigt hat.
Dolmetschen am TV
Bei SRF steht sie auch als Dolmetscherin für Live-Events im Einsatz. Das grösste Highlight war für sie jeweils die Oscar-Verleihung. Wer die Veranstaltung noch nie gesehen hat, muss wissen: Sie dauert mehrere Stunden, findet in unseren Breitengraden mitten in der Nacht statt, und man kann sich kaum darauf vorbereiten, denn was sich die Hollywood-Stars für ihre Laudationes ausdenken, ist höchst individuell und hat einen grossen Unterhaltungsfaktor. Eine pointierte Rede im selben Stil zu dolmetschen, ist besonders anspruchsvoll – Widmer meisterte es mehrmals mit Bravour. «Für viele Kolleginnen und Kollegen sind die Oscars ein absolutes Albtraumszenario», sagt Widmer lachend. «Für mich hingegen ist es genial. Ich bin ein Nachtmensch und ein Serienjunkie, kenne alle Schauspielerinnen und Schauspieler und verstehe aufgrund meiner Affinität zu den USA sämtliche Anspielungen.» Herausfordernd sei es hingegen, wenn eine Person mit einem ausgeprägten Dialekt spricht. «Im Rahmen der Sendung ‘Sportpanorama’ hatte ich etwa mit Julien Alfred, der Sprint-Olympiasiegerin aus St. Lucia, gewisse Mühe, weil das Zuhören allein so viel Denkleistung erforderte.»
Auch bei den Debatten im US-Wahlkampf war Widmer am Mikrofon von SRF, um Joe Biden und Kamala Harris ihre Stimme zu verleihen. Anspruchsvoll sei eine solche Debatte allemal, aber ihr Kollege, der Trumps Part übernehmen musste, habe eine ungleich schwierigere Aufgabe gehabt: «Trump zu dolmetschen, ist next Level – am sogenannten Liberation Day, dem Tag, als die US-Zölle verkündet wurden, übernahm ich ausnahmsweise diese Aufgabe. Während es bei anderen Politikerinnen und Politikern oft vorhersehbar ist, was sie bei öffentlichen Auftritten sagen, ist Trump einfach eine Wundertüte hoch zehn. Bei ihm versagt eines unserer zentralen Werkzeuge: die Plausibilitätskontrolle – hat er das jetzt wirklich gesagt oder hat mir mein Hirn einen Streich gespielt?» Man erinnere sich an die Aussage, Immigranten ässen Hunde.
Up to date bleiben
Ein breites Allgemeinwissen ist für eine Dolmetscherin Pflicht. «Es gibt schon rhetorische Strategien, um auszuweichen, wenn man etwas nicht genau verstanden hat. Aber Improvisieren erfordert viel Denkarbeit und man kann es sich einfach nicht leisten, zu viele Wissenslücken zu haben», erzählt Widmer. «Wenn gerade die Fussball-WM läuft, muss man wissen, wer gewonnen hat, auch wenn man sich nicht dafür interessiert. Es könnte überall eine Anspielung auf ein Spiel kommen.» Um informiert zu bleiben, liest sie täglich Zeitungen auf Deutsch und Englisch, hin und wieder auch auf Spanisch und Französisch. «In den letzten Jahren fällt es mir oft schwer, die Weltlage ist ja leider alles andere als aufbauend», gibt sie zu. «Manchmal entscheide ich mich bewusst dafür, nur Überschriften und Einleitungen zu lesen, um mich emotional abzugrenzen.»
Wie sieht sie die Zukunft des Dolmetschberufs? «Es wird bestimmt nicht einfacher», sagt Widmer. «Zumindest mit der Sprachkombination Englisch und Deutsch. Französisch hingegen ist in der Schweiz noch immer enorm gefragt.» Spardruck spüre man deutlich. Waren früher bei mehrsprachigen Veranstaltungen Dolmetschkabinen noch selbstverständlich, so begnügen sich heute viele Veranstalter damit, Dolmetschende per Online-Plattform zuzuschalten – oder ganz wegzusparen, mit der Begründung, Englisch könnten sowieso alle. «Nicht live dabei zu sein, erschwert unsere Arbeit enorm. Durch die Datenkomprimierung gehen Frequenzen verloren, was das Zuhören anstrengender macht. Manchmal sieht man auch die nonverbale Kommunikation der Sprechenden nicht.» Einige Veranstalter setzen mittlerweile auch auf KI. «KI-Systeme sind noch nicht so ausgereift, dass sie eine menschliche Verdolmetschung adäquat ersetzen, und die Englischkenntnisse vieler Leute reichen bei Weitem nicht aus, um einem komplexen Sachverhalt zu folgen. Aber diese Entwicklung ist kaum aufzuhalten», sagt Widmer. «Ich gebe meinen Traumjob dennoch nicht so schnell auf. Für mich hat Dolmetschen Priorität, solange es irgendwie geht.» Um sich abzusichern, setzt Widmer auf verschiedene Tätigkeiten, die eine gute Stimme erfordern. So hat sie auch eine Ausbildung zur Sprecherin absolviert, um Werbespots oder Dokumentationen zu vertonen. Und sollte die Nachfrage einmal ganz wegfallen, hätte sie durchaus noch andere Talente und Interessen. Vor dem Studium spielte sie zwei Saisons Profivolleyball und in ihrer Freizeit widmet sie sich dem Modedesign und dem Goldschmieden – die Ideen werden ihr definitiv nicht so schnell ausgehen.
Simultandolmetschen bei den Oscars
Dana Widmer am Dolmetschmikro bei der Oscarverleihung 2023:
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