Pflegende Angehörige: Diejenigen stützen, die andere stützen
Angehörige tragen ganz entscheidend zur Sorge und Pflege von älteren Menschen bei. Gerade bei der Betreuung demenzkranker Familienmitglieder stossen sie aber auch an ihre Grenzen. Warum sie oft nicht oder erst spät Hilfe suchen und was wirklich Entlastung bringt.
Vier von fünf Menschen über 80 Jahre in der Schweiz leben nach wie vor zu Hause. Das wäre ohne ihre Ehepartnerinnen und Kinder, ohne ihre Schwiegertöchter und Geschwister nicht möglich. Angehörige übernehmen einen wesentlichen Teil der Sorge und Pflege von Menschen im Alter; sie gehen einkaufen und wechseln die Bettwäsche, erinnern an Arzttermine und helfen beim Haarewaschen. Ihr Beitrag dürfte in den kommenden Jahren noch grösser werden.
Mehr und mehr kümmern sich Angehörige dabei auch um Familienmitglieder mit Demenz. Gemäss Prognosen des Bundesamtes für Gesundheit dürften bis 2045 rund 300’000 Personen oder mehr an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz leiden. Fast die Hälfte der Kosten, die dem Schweizer Gesundheitssystem dadurch entstehen, werden schon heute durch die unentgeltliche Arbeit des nahen Umfeldes gedeckt.
«Zur Trauer, die jede schwere Erkrankung einer nahestehenden Person begleitet, kommt bei Demenz eine enorme Einsamkeit hinzu.»
«Zwischen 80 und 85 Jahren kommt es zu den einschneidendsten Abbauprozessen beim Menschen», sagt Barbara Baumeister, Gerontopsychologin am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe der ZHAW. Die Diagnose Demenz sei für alle ein sehr kritisches Lebensereignis, aber es gehe ihr meist ein schleichender Prozess voraus; veränderte Verhaltensweisen und Wesenszüge der Betroffenen könnten am Anfang oft nicht richtig eingeordnet werden. Zwar hätten Sensibilisierung und Bewusstsein für die Krankheit zugenommen, so die Dozentin und Forscherin am Departement für Soziale Arbeit. «Dennoch wissen viele Familien nicht, was mit einer Demenz auf sie zukommt.»
Von Rückenschmerzen bis zu Schlafstörungen und Depressionen
Die Pflege von demenzkranken Familienmitgliedern bedeutet eine grosse Herausforderung. Hält die Belastung über längere Zeit an, kann das auch Folgen für die Gesundheit der Betreuenden haben: Sie reichen von körperlichen Leiden wie Rückenschmerzen bis hin zu psychischen Beschwerden wie Schlafstörungen oder Depressionen.
«Zur grossen Trauer, die jede schwere Erkrankung einer nahestehenden Person begleitet, kommt bei der Demenz auch eine enorme Einsamkeit hinzu», sagt Baumeister. Zusehend entgleitet einem der Mensch, den man so gut zu kennen glaubte. Er ist nicht mehr der Gesprächspartner, der er einmal war, nicht mehr Lebenspartner.
«Gewalt an pflegebedürftigen Menschen geschieht fast immer aus Überforderung.»
Häufen sich erschwerende Faktoren in der Betreuung – dazu gehören psychische Erkrankungen wie eben eine Demenz, aber auch Isolation oder Abhängigkeit –, kann es sogar zu Gewalt kommen. «Angehörige handeln dabei in den allerseltensten Fällen vorsätzlich», betont Baumeister, die sich in mehreren Forschungsprojekten der ZHAW intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat. «Gewalt an pflegebedürftigen Menschen geschieht fast immer aus Überforderung.» So dürfte ein solcher Kontrollverlust auch den Angehörigen selbst sehr zu schaffen machen. Die Gerontopsychologin hält darum nicht viel davon, von Tätern beziehungsweise Täterinnen und Opfern zu sprechen. «Es muss vielmehr das ganze System betrachtet werden.»
Angehörige nehmen externe Hilfe oft spät in Anspruch
Immer wieder stellt Baumeister in Gesprächen mit Fachleuten und betroffenen Familien aber fest: Vielen Angehörigen fällt es schwer, Hilfe anzunehmen; professionelle Beratungsstellen werden häufig nicht oder erst spät aufgesucht. Die Gründe dafür sind vielfältig: So gehe es hier um einen privaten und intimen Bereich, in den man grundsätzlich eher ungern Einblick gewähre, sagt die Forscherin.
Eine Rolle spielten aber auch Schamgefühle, ebenso ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein. Die Pflege nicht alleine gewährleisten zu können, werde als Versagen empfunden, und man glaubt, eine ausschliessliche Betreuung auch dann schuldig zu sein, wenn man längst seine Grenzen erreicht hat. Gleichzeitig sind Angehörige bisweilen skeptisch, ob etwa der pflegebedürftige Vater überhaupt externe Hilfe annehmen würde – und ob diese ihren eigenen Ansprüchen entspräche. «Es fällt den Betreuenden auch nicht immer leicht, einen Teil der Verantwortung abzugeben.»
«Ganz klar ist Entlastung auch eine finanzielle Frage.»
Manchmal wissen Angehörige aber auch nicht, welche Unterstützungsmöglichkeiten existieren, oder es sind schlicht keine passenden Angebote in der Nähe. «Ganz klar ist Entlastung zudem eine finanzielle Frage», betont Baumeister. Längst nicht alle Betreuenden könnten sich die Hilfe leisten, die sie sich für sich und ihre Nächsten wünschen würden. Nicht selten sei man sich auch in der Familie uneins darüber, was eine solche Hilfe kosten dürfe.
Ausbruch aus der Isolation
Fachleute können Angehörigen entscheidendes Wissen vermitteln und Handlungsoptionen aufzeigen. Gerade der Umgang mit Demenzkranken setzt viel Verständnis für die Krankheit voraus. Solche Gespräche mit Expertinnen und Experten seien aber aus einem weiteren Grund wichtig, weiss die Psychologin Isabelle Nessensohn: «Sie sind für Betreuende ein Ausbruch aus der Isolation.» Es geht also auch um das Gefühl, nicht allein zu sein, Gehör zu finden, anerkannt zu werden. Fachleute wüssten, was unter gegebenen Umständen normal sei, und auch, wie schwer es sein könne, die eigenen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen zu lassen.
«Oft können selbst nahestehende Menschen nur bedingt nachvollziehen, was die Sorge für ein pflegebedürftiges Familienmitglied bedeutet.»
Nessensohn hat für ihre Masterarbeit am Departement für Angewandte Psychologie der ZHAW untersucht, wie Angehörige das Angebot der Gerontologischen Beratungsstelle SiL erleben. Im Gegensatz zu aufsuchenden Demenzberatungen andernorts, die erst nach einer Diagnose aktiv würden, besuche die Stadtzürcher Organisation gefährdete Menschen früher, meist auf eine Verdachtsmeldung von Hauseigentümerinnen, Nachbarn oder der Polizei hin. So könne durch ihre Arbeit oftmals eine Institutionalisierung hinausgezögert oder eine notfallmässige Hospitalisation vermieden werden.
«Oft können selbst nahestehende Menschen nur bedingt nachvollziehen, was die Sorge für ein pflegebedürftiges Familienmitglied bedeutet», sagt die heutige Geschäftsführerin von Alzheimer Thurgau. Gerne werde die Pflege mit den Herausforderungen verglichen, die die Betreuung von kleinen Kindern mit sich bringt. Und natürlich gebe es Parallelen: lange Nachmittage mit Spaziergängen und Spielen, Gespräche von reduzierter Komplexität, Aufruhr mitten in der Nacht.
«Viele Betreuende sind sich gar nicht bewusst, was für eine enorme Leistung sie erbringen.»
Was die beiden Situationen aber fundamental unterscheide: Durchlaufen junge Eltern eine solche Phase im Wissen, dass sie an deren Ende einen Menschen in die Selbstständigkeit entlassen, ist die Pflege eines demenzkranken Menschen stets vom Bewusstsein begleitet, dass sich die Spirale kontinuierlich abwärtsdreht und am Schluss nicht das volle Leben wartet, sondern der Tod.
Eine App mit Infos und Tipps für Betreuende
Einen besonders niederschwelligen Zugang zur Unterstützung von betreuenden Angehörigen erarbeitet derzeit ZHAW-Forscher und Dozent Samuel Wehrli. Gemeinsam mit der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK und den Praxispartnern We+Tech und Pro Aidants entwickelt er eine App, die Wissen über Demenz und Beratungsmöglichkeiten bündeln und leichter zugänglich machen soll.
«Gleichzeitig möchte die App zur mentalen Gesundheit der Angehörigen beitragen», sagt der Leiter des Netzwerks Soziale Arbeit und Digitalisierung am Departement für Soziale Arbeit. Es gehe darum, einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen und mit gezielten Fragen und Lösungsansätzen mitzuhelfen, dass schwierige Situationen früher erkannt und die eigenen Grenzen gewahrt werden können. «Viele Betreuende sind sich gar nicht bewusst, was für eine enorme Leistung sie erbringen.»
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