Planetary Health Folge 5: Pixel, Pflanzen und Prozesse – wie Ernährungssysteme resilienter werden

05.12.2023
4/2023

In einer Welt, in der Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Ressourcenknappheit immer präsenter werden, stehen wir vor der Herausforderung, unsere Lebensmittelproduktion neu zu definieren.

Technologie allein wird uns nicht retten – es braucht Bewusstsein, Bildung, Verhaltensanpassung und die Kraft der Zivilgesellschaft, um die Widerstandsfähigkeit des Ernährungssystems zu stärken. Die Kombination aus traditionellem landwirtschaftlichem Wissen und modernen Technologien könnte den Schlüssel zu regenerativen und robusteren Ernährungssystemen darstellen. Wie könnte eine Fusion digitaler Innovation und regenerativer Landwirtschaft die Ernährungssysteme der Zukunft formen?

Pixel

Die Beobachtung beginnt in einem Raum, in dem Virtual Reality und Echtzeitdaten uns einen unmittelbaren Einblick in die Ackerböden auf der ganzen Welt geben. Intelligente Sensoren und Deep-Learning-Strukturen lassen uns in den «Moment» eintauchen, verstärkt durch den Informationsfluss von Sensoren, die alles vom Boden-pH-Wert über die Feuchtigkeit bis hin zum Mikrobiom (Gemeinschaft von Mikroorganismen im Boden, die für Nährstoffkreisläufe und Bodengesundheit essenziell sind) erfassen. Das Rückgrat dieses digitalen Ökosystems ist eine Dateninfrastruktur, die jeden Aspekt des landwirtschaftlichen Zyklus überwacht und die Wettervorhersage mit dem Zustand des obersten Meters fruchtbarer Erde ergänzt. Ziel ist es nicht nur, Feldfrüchte zu ernten, sondern gleichzeitig Daten, die zur Optimierung der Prozesse unter resilienzsteigernden Aspekten eingesetzt werden können.

Pflanzen

Mit diesen Daten werden regenerative landwirtschaftliche Praktiken gefördert, die darauf abzielen, den Boden wiederherzustellen, die Biodiversität zu erhöhen und das lokale Klima zu stabilisieren. Pflanzen werden nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als entscheidende Akteure im Kohlenstoffkreislauf gesehen. Sie sind ein Teil davon und nehmen mit den Mikroorganismen, Kleinstlebewesen und der gesamten Fauna grossen Einfluss auf das Makrobiom (Gemeinschaft von makroskopischen – sichtbaren – Organismen in einem Ökosystem oder einer Umgebung). Neue Kulturen, die besser an den Klimawandel angepasst sind, werden identifiziert und gefördert.

Prozesse

Der Übergang von der Chargen-Verarbeitung (Batch) zur kontinuierlichen Verarbeitung revolutioniert die Lebensmittelproduktion. Echtzeitdaten-Erfassungssysteme ermöglichen es, jeden Schritt im Verarbeitungsprozess zu optimieren. Vom Anpassen der Maschinenparameter aufgrund von Abweichungen der Zusammensetzung der Rohstoffe bis zur Integration von Kundenfeedback durch Analyse der sozialen Medien – vieles wird in Echtzeit gesteuert. Der Diversität der Zusammensetzung von Rohstoffen wird nicht länger mit Auslese und Ausschuss begegnet – Prozessvariationen ermöglichen Inklusion und angepasste Verwertung auf höchstem Qualitätsniveau.

Produkte

Das Endresultat sind Lebensmittel, die nicht nur nahrhafter, sondern auch nachhaltiger sind. Mit dem Fokus auf regenerative Prozesse entstehen Produkte, die sich sowohl für den Planeten als auch für die Menschen positiv auswirken. Durch die Verringerung von Lebensmittelverschwendung, Optimierung des Liefernetzwerks und Überwachung der Lebensmittelsicherheit erschaffen wir ein exponentielles Ernährungssystem. Ein exponentielles Ernährungssystem ist ein datengetriebener Ansatz, der durch kontinuierliche, in Echtzeit optimierte Prozesse die Effizienz und Nachhaltigkeit der Lebensmittelproduktion steigert und dabei von Technologien wie maschinellem Lernen und Echtzeitanalyse Gebrauch macht.

Urban Farming und Aquaponik

Der Zugang zu frischen, qualitativ hochwertigen Lebensmitteln in städtischen Gebieten stellt eine enorme Herausforderung dar. Urban Farming und Aquaponik könnten hier einen Beitrag leisten. Diese Ansätze ermöglichen nicht nur den Anbau von Nahrungsmitteln in städtischen Umgebungen, sondern fördern auch die lokale Wirtschaft und verringern den ökologischen Fussabdruck durch den reduzierten Bedarf an Transport und Lagerung. Aquaponik, ein System, das den Anbau von Pflanzen und Fischen kombiniert, nutzt die Abfallprodukte der Fische als Nährstoffquelle für die Pflanzen, während die Pflanzen das Wasser filtern. Diese Kreislaufsysteme könnten sich als besonders wertvoll in Gebieten erweisen, in denen Wasser ein knappes Gut ist.

Genetische Anpassungen

Obwohl genetisch modifizierte Organismen (GMOs) kontrovers diskutiert werden, können sie die Resilienz von Pflanzen gegenüber Krankheiten, Schädlingen und extremen Wetterbedingungen erhöhen. Wissenschaftliche Untersuchungen und verantwortungsbewusste Regulierung sind hierbei essenziell, um sowohl Ernährungssicherheit als auch ökologische Integrität zu gewährleisten.

Nutritive Anreicherung

Algen, Bakterien und Pilze sind und waren die unscheinbaren Helfer der Lebensmittelherstellung. Algenzuchten können in Meerwasserbecken oder Bioreaktoren hocheffiziente, proteinreiche Nahrungsgrundstoffe produzieren. Spezialisierte Mikroorganismen können aus Abfallprodukten Nahrungsmittel erzeugen. Myzel-Kulturen bieten nicht nur ernährungsphysiologische Vorteile, sondern können auch als Fleischersatz dienen. Unter Einsatz veränderter Mikroorganismen ist es möglich, Nährstoffe als Grundlage für Lebensmittel in Bioreaktoren zu erzeugen. Die Medien dafür kommen aus der Landwirtschaft – dies wird noch sehr lange notwendig bleiben.

Biotransformation – Molekulares Upcycling

Zellkulturen können ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zu einer dezentralen Herstellung von Lebensmitteln leisten. Während an verschiedenen Orten weltweit erste Produkte auf die Märkte und in den Konsum gelangen, müssen diese Novel-Food-Nahrungsmittel ihre Verbrauchssicherheit in Europa erst noch unter Beweis stellen. Die Herausforderungen liegen hier insbesondere bei tierischen Zellkulturen und bei den durch die Medien und Kulturbedingungen verursachten Herstellungskosten. Etwas geringer sind diese Hürden bei Fisch- und Pflanzenzellen. Auch bei diesen Kulturtechniken stammen die Nährmedien für die Ernährung der Zellen aus der landwirtschaftlichen Urproduktion.

Kontinuierliche Verarbeitung und Echtzeit-Optimierung

Parallel zu den urbanen Landwirtschaftsinnovationen bringt die «Exponential Food Technology» die Bedeutung von Effizienz, Nachhaltigkeit und Gesundheit in der Lebensmittelproduktion hervor. Die konventionelle Lebensmittelproduktion, charakterisiert durch Batch-Prozesse, wird durch kontinuierliche, selbstoptimierende Prozesse revolutioniert. Zu den Hauptelementen dieser Technologie gehören intelligente Sensoren, Echtzeit-Rückkopplungsschleifen, vorausschauende Wartung, Integration von Kundenfeedback, Prozessumgestaltung, Optimierung des Versorgungsnetzes, Nachhaltigkeitsmetriken und KI-gesteuerte Forschung und Entwicklung. Die Umstellung von starren, chargenbasierten Prozessen auf dynamische, anpassbare Systeme verringert Food Waste und erhöht die Prozesseffizienz.

Alternative Proteinquellen – Pflanze statt Tier

Fleischalternativen gewinnen in der modernen Ernährung immer mehr an Bedeutung. Während der traditionelle Fleischkonsum ökologische Bedenken aufwirft, bieten pflanzliche Proteine wie Linsen, Kichererbsen und Tofu sowie innovative Fleischalternativen aus Pilzen, Algen oder Insekten nachhaltigere und im ausgewogenen Ernährungsplan gesündere Optionen. Ziel ist hier, die aus den Pflanzen extrahierten Proteinpulver durch die Verwendung komplexer, wenig prozessierter Rohstoffe aus möglichst ganzen Pflanzenteilen zu ersetzen und so den teilweise hohen Verarbeitungsgrad zu vermindern.

Technologieabhängigkeit

Moderne Lösungen sind oft robuster und können, wenn richtig implementiert, zu einer beständigeren Versorgungskette führen. Die Schlüsselidee ist Redundanz und Diversität in den Systemen bereits bei der Planung (by design) und beim Bau (build in), sodass ein einzelner technologischer Ausfall nicht das gesamte System lahmlegt. Ansonsten würde das Ernährungssystem noch verwundbarer, als es heute schon ist.

Dezentralisiert, effizient und regenerativ

Die Kombination von Urban Farming und Exponential Food Technology zeichnet ein Bild von einer Zukunft, in der Lebensmittelproduktion dezentralisiert, effizient und regenerativ ist. Wir sprechen von einem resilienten Ernährungssystem, bei dem sich alles um Pflanzen, Prozesse und Produkte dreht – optimiert durch die Pixel, die Daten als Grundlage intelligenter Systeme. So ist die notwendige «ökologische Wende» vielleicht zu schaffen.

Die Vision ist klar: eine Welt, in der die Lebensmittelproduktion sich an die sich ständig ändernden Anforderungen anpasst, dem Klimawandel entgegentritt und gleichzeitig sicherstellt, dass möglichst niemand hungrig und die Biodiversität erhalten bleibt.

In diesem Zukunftsbild ist Bildung der Schlüssel. Eine informierte Bevölkerung, die ihr Ernährungsverhalten anpasst, die Technologie versteht und ihr Potenzial ausschöpft, gepaart mit globaler Zusammenarbeit, wird sicherstellen, dass diese Vision Wirklichkeit wird. Es ist eine revolutionäre Reise, und sie hat bereits begonnen.

Zu den Schreibenden

Das Unerwartete denken und schreiben ist das Motto von Gisela und Tilo Hühn. Gemeinsam verantwortungsvoll handeln, reflektieren und etwas bewirken sind die Eckpfeiler ihres Lebenskonzepts. Die beiden arbeiten als Forschende und Dozierende an der ZHAW: Gisela Hühn in der Forschungsgruppe für Lebensmittel-Prozessentwicklung, Tilo Hühn als Leiter des Zentrums für Lebensmittelkomposition und -Prozessdesign. Ob an der Hochschule oder am Küchentisch: Beide diskutieren und arbeiten gerne – zu zweit oder mit anderen – zu zukünftigen Ernährungssystemen sowie zu der Frage, wie man bei der Verarbeitung mehr vom Guten aus Agrarprodukten erhält.

Die «Impact»-Serie Planetary Health

Ist unser Planet noch zu retten? Und wenn ja, wie? Um diese Fragen geht es in der neuen Serie «Planetary Health» des «Impact»-Webmagazins der ZHAW. Die Serie ist noch nicht fertig konzipiert, sondern kann sich, liebe Leserinnen und Leser, auch aus Ihren Anregungen und Wünschen weiterentwickeln. Die ZHAW-Forschenden Gisela und Tilo Hühn erklären in den ersten Folgen, wie wir mit Essen die Welt retten können. Schonkost kredenzen die beiden Forschenden nicht. Vielmehr tischen sie offen auf, woran unser Ernährungssystem krankt und welche negativen Einflüsse es auf die Umwelt hat. Garantierte Rezepte zur Genesung gibt es hier keine, sondern Gehirnfutter zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren. Denn: «Die Schlacht zur Rettung des Planeten wird auf dem Teller gewonnen.» Bis zum wohlverdienten Dessert ist es noch weit.

Wir freuen uns über Ideen und Anregungen gleich unten bei den Kommentaren.

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